Fluxury by Sergio Benvenuto

Freuds Annäherung an Trauer und Melancholie - und danachMay/22/2023


 

Sergio Benvenuto (Rom)


Summary

 

In the first part of this paper, the author reconstructs Freud’s theory of melancholy stressing its relation with the complex concept of Freudian narcissism. The specific narcissism of depression is described as a certain relation to one’s mirror image. Through the paradoxes of narcissism, the author focuses on the mystery of the Freudian object, whose lack throws its shadow on the Ich of the subject.

In the second part, the author reconstructs the Freudian concept of narcissism itself  and of some other major Freudian concepts making use of a figure which tries to make clear these Freudian concepts as “functional” ones, i.e. considering them as mathematical functions. A function, in mathematics, is when the semantic dimension of a term varies proportionally to the variations of the semantic dimension of the term connected to the former. According to this reconstruction, graphic and conceptual at once, the author situates three of Freud’s fundamental concepts – Ich, Objekt, Ideal – as functional concepts. Melancholy and mania are situated in this frame as mood states which belong to the border-line separating Ich-Libido from Objekt-Libido: this means that they are not bound to either sexual libido or the idealization processes, but rather mark the functional limit between libido and idealization.  The mood shifts are always in-between eroticism and idealization.

 

 

Keywords

 

Freud’s theory of Melancholia – The Freudian Objekt - Concept of Narcissism – Ich-Libido and Objekt-Libido – Eroticism and idealization -

 

I

 

 

                                                           Das Vergnügen, sich selbst schlechtzumachen übertrifft

                                                                       bei weitem dasjenige, schlechtgemacht zu werden.

                                                                                                          E. M. Cioran (1973)

 

  1. 1.             Spaltung

         

           In Trauer und Melancholie setzt Sigmund Freud (1915) zwei bemerkenswerte Syndrome, Melancholie und Manie, mit zwei “normalen”, für jedermann verständlichen Erfahrungen in Beziehung: Er schreibt die Melancholie in die Phänomenologie der Trauer ein und verknüpft die manische Erregung mit der Erfahrung des Feierns (“Freude, Jubel, Triumph”)(GW X, S. 441).

          Unter Trauer versteht er unsere dysphorische Reaktion auf den Verlust von etwas, das für uns von Wert ist: Gesundheit, Geld, Erfolg, Jugend, das Heimatland, eine Geliebte, einen Freund und so weiter. Für Freud ist Trauer eine psychische Arbeit und bringt, wie jede Arbeit, etwas hervor: ihr eigenes Ende. Der Schmerz der Trauer bringt uns dazu, uns Schritt für Schritt vom verlorenen Objekt abzulösen: Es ist eines der erbarmungslosen Gesetze des Lebens, dass im Laufe der Zeit selbst unsere liebsten Verstorbenen oft vergessen werden. Melancholie ist ihrerseits die Arbeit, ein verlorenes Objekt zu eliminieren, die zu ihrem Gegenteil führen kann: zur Manie.

          Warum wählen einige Subjekte die klippenreiche Strasse der Melancholie statt der (angeblich) normalen der Trauer? Um das zu beantworten, führt Freud zwei Katalysatoren ein: Ambivalenz und Narzissmus.

          Der zur Melancholie Prädisponierte – schreibt Freud - hegt ambivalente Gefühle dem geliebten verlorenen Objekt gegenüber, das auch den Hass und den Groll des Subjekts auf sich gezogen hatte. Diese These wurde allerdings rasch von verschiedenen Schülern  Freuds angefochten; ein Objekt zieht Ambivalenz genau deshalb auf sich, weil es verloren ist. Es gibt immer ein Element von Groll dem lieben Verstorbenen gegenüber: “Warum hast du mich verlassen?” Kurz, jede Trauer ist ambivalent. Das geliebte und enttäuschende Objekt - ob eine Person, ein Ideal oder ein Wert - wird mit Vorwürfen gegeißelt. De mortuis nihil nisi bonum- sprich nicht schlecht von den Toten. Dieses Sprichwort kompensiert die ursprüngliche Feindseligkeit der Person gegenüber, die uns verlassen hat, nur dass in der Melancholie diese Feindseligkeit sich nicht mehr gegen das verlorene Objekt richtet: Das Subjekt identifiziert sich mit diesem, weshalb es gegen das eigene Ich wütet, statt auf das verschwundene Objekt zornig zu sein. Der Speer wird zum Bumerang, der sich gegen das Ich wendet.  

Wohlgemerkt: Der Melancholische wirft nicht sich selbst in den Staub, sondern sein eigenes Ich. Dieser Unterschied zwischen dem eigenen Selbst und dem Ich ist entscheidend. Der Melancholische quält das Ich, da das Ich an die Stelle des anderen getreten ist. Wir sollten ein Subjekt fragen “Gegen wen sind Sie depressiv?”

          Im 17.Jahrhundert schrieb Samuel Butler (1908), “ein melancholischer Mensch ist einer, der den schlechtesten Umgang pflegt, den man sich denken kann, nämlich den mit sich selbst.” Nach Ansicht von Darian Leader (2008) würde Freud genau das Gegenteil sagen: Den Umgang, den der Melancholiker pflegt, ist tatsächlich sein verlorenes Objekt, nur dass er die ganze hasserfüllte Wut, die er auf dieses Objekt hat, auf sein eigenes Ich umlenkt: Er beschuldigt unablässig sein eigenes Ich für jede Schwäche und Niederlage. Er ist eine zentripetale Variante des Sündenbocks: Das Subjekt macht aus dem eigenen Ich ein Opfertier. Und es spielt beide komplementären Rollen in diesem Drama wie in den Les fleurs du mal von Baudelaire (1861):

 

Ich bin die Wange und der Streich!      Je suis la plaie et le couteau!
Ich bin das Messer und die Wunde!      Je suis le soufflet et la joue!

Glieder und Rad zur selben Stunde,      Je suis les membres de la roue,

Opfer und Henkersknecht zugleich!      Et la victime et le bourreau!

 

Die Melancholie legt also eine Dyskrasie (1) frei, die wir in jedem menschlichen Wesen finden können: die Spaltung der Subjektivität.

Im melancholischen Syndrom greift ein Teil der Subjektivität sadistisch einen anderen Teil der Subjektivität, das Ich, an, tritt als Kläger auf.  “Klagen sind Anklagen”, sagt Freud (GW X, S. 434).

Freud wird diese strenge verfolgende Kraft das ÜBER-Ich nennen.

 

 

 1) Begriff aus der antiken Säftelehre (Krasis), der eine fehlerhafte Zusammensetzung der Säfte bezeichnet, die nach dieser Auffassung Krankheiten verursachte.

 

 

 

 

 

2. Narzissmus

 

Was treibt den Melancholischen dazu, sein Ich anstatt das Ich des anderen zu quälen, der ihn enttäuscht hat? Der Narzissmus.

Freud greift eine literarische Tradition auf, die es liebte,  Melancholie mit dem Spiegel des Narziss zu verknüpfen. Über Jahrhunderte war der Spiegel nicht nur das Symbol weiblicher Koketterie und der Wahrheit, sondern auch der melancholischen Widerspiegelung.  Der Mythos von Narziss entfaltet sich rund um eine doppelte tödliche  Spiegelung: zwischen Echo, die sich nach Narziss verzehrt, und dem zitternden Bild im Wasser. Der melancholische Jacques in Shakespeares Wie es Euch gefällt beugt sich über einen Fluss und weint. Sogar bei Baudelaire führt mélancolie oftmals über zu dem kalten reinen Bild des Spiegels.

           In seiner Beziehung zu diesem Spiel der Spiegel ist der Freud’sche Narzissmus kein klar umrissener Begriff und trägt ein abgründiges Schwanken in sich. Die Freud’sche Vorstellung von Narzissmus ist schrecklich schwindelerregend, so als ob der Begriff selbst narzisstisch wäre. Narziss ist der gut aussehende junge Mann, der sich in sein eigenes Spiegelbild im Wasser verliebt und darin ertrinkt, weil er nicht mehr in der Lage ist zu erkennen, dass „er“ nur sein eigenes Bild ist. Narzissmus ist also nicht einfach Selbst-Liebe oder Egoismus: Er ist zunächst und vor allem Liebe zu einem Bild, das nicht als Bild von einem selbst erkannt wird. Es geht also nicht um die Liebe zum eigenen Selbst, sondern um die Liebe zu einem Bild von einem Selbst, das jedoch etwas anderes ist als man selbst. Nur scheinbar zieht sich der Narzisst von der enttäuschenden äußeren Welt  in sein eigenes festgefügtes Universum - sein Selbst - zurück. In Wirklichkeit verliert er sich selbst in vollkommener Entfremdung. Der Narzisst ist einer, der sein eigenes Ich eintauscht gegen „ihn-selbst“ oder „sie-selbst“. Diese Unterscheidung, die in vielen Sprachen schwierig zu fassen ist (das Englische unterscheidet nicht zufällig zwischen dem Ich  und dem Selbst) ist die Grundlage der gesamten psychoanalytischen Narzissmus-Lehre.

          Von hier stammt das eigentümliche Freud’sche Paradox: Je mehr wir von uns selbst fasziniert sind - je narzisstischer wir sind -, desto weniger sind wir es eigentlich. Ein gesunder, geglückter Narzissmus – sich selbst respektieren, nachsichtig und fähig zum Mitgefühl mit sich selbst sein können - ist seltsamerweise eine mindere Form des Narzissmus. Die so genannten „narzisstischen Störungen“ enthüllen dagegen seine Kehrseite: eine tiefe narzisstische Fragilität. In der Psychoanalyse ist der – unglückliche - Narzisst jemand, der unfähig ist, wirklich narzisstisch zu sein.        

          Der Melancholische ist narzisstisch, weil er in grandioser Weise alle Schuld und alles Böse seinem eigenen Ich anlastet. Melancholie - die Pracht des eigenen Zusammenbruchs - beschreibt die bombastische Art, in der ein Subjekt seinen eigenen Zerfall erlebt. Der Freud’sche Begriff des Narzissmus erbt damit die Ambiguität der Melancholie in der abendländischen Tradition, beginnend mit Aristoteles: Melancholie ist die Quelle einiger der furchtbarsten Formen von Verrücktheit, aber auch der erhabensten Schöpfungen. Auch heute wird Narzissmus als unverzichtbare Selbstliebe betrachtet, die erlaubt, uns selbst zu verzeihen, aber auch als Wurzel der verheerendsten Psychosen.

          Die andere, euphorische Seite des Narzissmus ist die Manie. Manische Subjekte leben in einem kontinuierlichen Zustand gebieterischen Triumphes, in dem ihr Ich in einer Invasion in die Welt überfließt. Aber was feiern sie? Die Befreiung vom verlorenen (und deshalb gehassten) Objekt, das einen Schatten auf ihr Ich  geworfen hat. Nun sind sie frei, das Objekt versperrt ihnen nicht länger den Weg zum Handeln.

Natürlich sollten wir nicht Trauer und Fest einander gegenüberstellen, weil in vielen Kulturen Trauer auch eine Feier ist. Man muss nur an ein Trauerritual wie den irischen wake denken. (Der irische wake ist eine party-ähnliche Zusammenkunft von Verwandten und Freunden im Hause des Verstorbenen mit Essen, Trinken und Gesprächen.) Doch diese Ambiguität, die das Trauern umgibt - die einige psychologische Bremsen löst, einen Genuss gestattet, den wir uns für gewöhnlich nicht erlauben -, ist sogar in sehr persönlichen Erfahrungen offensichtlich. Für viele ist Tränen zu vergießen eine Erfahrung, die mit Genuss verbunden ist: beides hat exzessiven Charakter. Und öfter als man erwarten würde mag eine Frau einem Mann, der gerade einen geliebten Menschen verloren hat, einen One-night-stand anbieten, um ihn zu trösten. Sexueller Genuss kompensiert nicht nur den Schmerz des Verlustes, sondern scheint sogar der Trauer insofern gemäß, als er ihren „off limits“- Charakter unterstreicht, ihre Transgression normaler Empfindungen. Diese Ambiguität beinhaltet tatsächlich die Doppelseitigkeit von Manie und Melancholie: Vielleicht lauert Trauer hinter jedem manischen Zustand, und jede Trauer hat auch ein euphorisches Gesicht.

 

 

3.       Der Schatten auf dem Spiegel

 

Ich bin der Spiegel, drin ihr Bild         Je suis le sinistre miroir

Die Furien und Megären schauen!       où la mégère se regarde!

(Ch. Baudelaire, “Héautontimorouménos”)

 

          Welche Art von Beziehung wird zwischen dem Objekt auf der einen Seite -odiosamato, hasserfüllt geliebt - ,aber enttäuschend,  und dem Ich andererseits hergestellt, welches melancholisch an seine Stelle tritt? Nach Ansicht verschiedener späterer psychoanalytischer Schulen - insbesondere der englischen Schule von Melanie Klein - introjiziert der Melancholische das böse Objekt in sich selbst hinein (d.h.: in den eigenen psychischen Körper). Dadurch wird die melancholische Selbstgeisselung zur Verfolgung, die von diesem internalisierten bösen Objekt ausgeht.

          Aber Freuds Theorie ist weniger drastisch. Bei Freud fällt in der Melancholie der Schatten des Objekts auf das Ich. Das Objekt, das der Melancholische angreift, ist daher nicht der „böse“ Teil des anderen, den er in sich selbst aufnimmt: Es ist ein Schatten, der das Ich verdunkelt. Der Melancholische verfolgt nicht das Objekt, sondern seinen Schatten.

          Freud führt genauer aus, dass „er“ (der Melancholische) oft „zwar weiß wen, aber nicht, was er an ihm verloren hat” (GW X, S.431; SE 14, p.246). Zum Beispiel wird er sagen, dass für ihn das Leben keine Bedeutung mehr hat, weil er nicht mehr mit Ulrike zusammen ist; aber er kann nicht sagen, was  an Ulrike derart wichtig war, dass, nun da er sie verloren hat, das Leben jeden Wert für ihn verliert. Freud spricht nicht explizit über das „was“, die „Sache“, die in der schweren Depression verloren gegangen ist (möglicherweise, weil es unmöglich in Worte zu fassen ist). Es scheint etwas zu tun zu haben mit dem narzisstischen Wert des „wer“ immer da verloren worden ist. Die schöne Ulrike zu verlieren zerstört ihn, weil sie in gewisser Weise das Bild war, das seinem Ich Bedeutung verliehen hat. Mit anderen Worten, damit Trauer in Melancholie übergeht, muss man nicht nur etwas von Wert verlieren, sondern den Wert selbst. Das ist das wirkliche Objekt, das der Melancholische verliert. Kurz gesagt: Das Selbst ist für den Narzissten nur von Wert in Beziehung zu einem Wert-Objekt, und sobald dieser Wert ins Wanken gerät, verliert das Subjekt als Ganzes an Wert, wird zu nicht viel mehr als Abfall, den man loswerden muss.

          In einem Bild von Arnold Böcklin, das den Titel Melancholie  trägt, ist die Melancholie eine Frau in Trauerkleidung, die in einen Spiegel schaut, der vor ihr steht. Aber dieser Spiegel ist mit einem schwarzen Tuch verhüllt. Man sagt, der Melancholische sehe alles schwarz: Aber die Dunkelheit, in die sie schaut, ist das fehlende Objekt, zu dem sie selbst schließlich geworden ist. Sie denunziert sich selbst als das schwarze Loch, in das sie blind starrt. Cioran schrieb, dass Spiegel ein wenig reflektieren sollten, bevor sie zu reflektieren/spiegeln beginnen -, und wirklich, in der Melancholie reflektiert der reflektierende Spiegel nicht mehr.

    Das führt dazu, dass der Melancholische den anderen in seinem eigenen Ich nicht zu sehen vermag:  Als ein unwissentlicher Kläger weiß er nicht, dass das Selbst, das ihm im Wege steht, in Wirklichkeit der andere ist. Er meint sich selbst zu sehen, sieht aber stattdessen den Schatten des anderen. Eine dialektische Beziehung zwischen Spiegel und Schatten ist hier umrissen.

4. Narzissmus als Hindernis

          Wenn wir über Narzissmus sprechen, denken wir tatsächlich über Spiegel und Spiegelungen/Reflexionen nach. Und wirklich, als Freud diesen Begriff einführte (Freud 1914a), zentrierte er ihn um das Bild des Hindernisses. Zuerst und vor allem ist der Narzissmus ein Hindernis für analytische Behandlungen. Der Narzisst ist das Subjekt, das die Analyse nicht oder nur mit Schwierigkeiten erreichen kann: Er ist zu beschäftigt mit sich selbst, um berührt zu werden von dem, was der Andere sagt, sei dieser andere ein Analytiker oder ein Freund. Narzissmus taucht zuerst in den Schwierigkeiten psychoanalytischer Arbeit mit Neurotikern auf, “denn es schien, als ob ein solches narzisstisches Verhalten derselben eine der Grenzen ihrer Beeinflussbarkeit herstellte”(GW X, S.138).  Dies trifft sogar zu, wenn, wie wir gesehen haben, Narzissmus eine unverzichtbare Dimension aller menschlicher Wesen ist.

          Nun ist der Narzissmus nur ein Hindernis oder eine Grenze in dem Maß, als er auf Widerspiegelung ausgerichtet ist. Narziss verliebt sich in sein eigenes Bild, weil sein Trieb den anderen nicht erreicht; sein einziges Objekt ist sein eigenes Bild. Und das Subjekt kann leicht die imaginäre Spiegelung seiner selbst für ein anderes Objekt halten, weil eine Oberfläche es zurückwirft. Es ist, als ob ein Spiegel wie eine Leinwand (screen) wirkte, mit aller Doppeldeutigkeit, die das Wort enthält: Einerseits ist sie ein Schirm oder eine Schutzblende, die unsere Augen vor einer Lichtquelle schützt, aber sie ist auch eine Oberfläche wie der Fernsehbildschirm oder die Kinoleinwand, die Bilder zurückwirft. Im Narzissmus lässt eine Oberfläche, die wie eine Projektionsfläche wirkt, den Trieb nicht zum Objekt durchdringen und sendet gleichzeitig das Bild des Subjekts an das Subjekt zurück: eine Oberfläche, die blockiert und spiegelt.

          Wir können uns ein Subjekt vorstellen, das begehrende Lichtstrahlen aussendet. Lassen Sie uns auch vorstellen, dass da ein Schirm zwischen der Lichtquelle und dem Objekt ist, das diese Strahlen treffen sollen, und dass dieser sie aufhält. Der Schirm selbst bleibt als Objekt im Schatten, aber er reflektiert die Lichtquelle selbst, die verschiedenen Strahlen, die Ich (das Subjekt, die Lichtquelle) wird sehen und bewundern können. Die Schirm-Barriere wird wegen des Bildes, das der Bild-Schirm zurückwirft, nicht wahrgenommen. Alle „Selbst-Erkenntnis“ ist narzisstisch. (Ist jede „psychologische Sicht“ narzisstisch?)

          Doch das Objekt, das auf diese Weise im Schatten bleibt, weil die Oberfläche reflektiert, bleibt weiterhin im Bild: Wenn es abwesend ist, projiziert es seinen Schatten - oder besser den Schatten seiner Abwesenheit - auf den reflektierenden Schirm. Der Bildschirm selbst projiziert sich auf die Bilder, die auf ihm reflektiert werden, wie bei einer Sonnenfinsternis, wenn der Mond, den wir nicht sehen können, die Sonne verdunkelt. Das Subjekt sieht sein eigenes helles reflektiertes Bild nicht mehr, sondern sieht sich selbst als dunklen Fleck.

          Darum zeigt Freud, indem er den reflektierenden Spiegel und das frustrierende Hindernis eng verbindet, dass unser reflektiertes Bild nicht nur unser großartigstes und bewegendstes Liebesobjekt ist -, es ist zugleich unser unnachgiebigstes Hindernis. Wir werden selbst das tödlichste Hindernis für die Freude in uns. Narzissmus ist einerseits unsere Freude an unserem eigenen glänzenden Bild, andererseits bedeutet er, unser eigenes Ich als Balken im Auge der Lust zu erleiden ; er ist ein Schirm, der nicht zulässt, dass menschliches Begehren – was Freud Libido nennt - Befriedigung findet, indem es andere menschliche Wesen besetzt.  

          Eine rätselhafte Eigenschaft der Depression ist es, dass das Schlimmste am Morgen kommt, um die Zeit des Erwachens, während gegen Abend die Depression

dazu neigt abzuklingen. Viele Hypothesen sind zur Erklärung vorgeschlagen worden. Der springende Punkt ist, dass Subjekte, die sich von der Depression erholt haben, am Morgen ihr Bestes geben, wenn sie sich besonders wach und tatkräftig fühlen. Es ist, als ob sich in der Depression alle psychische Energie gegen das Subjekt wenden würde: Je stärker und heftiger die Libido ist, desto stärker wirkt das Ich als Hindernis dagegen, so dass das Subjekt sein Verlangen zu leben als Hemmnis und Last durchlebt. Depressive geben ihr Bestes gegen sich selbst. Aber eins ist sicher: Es braucht große Vitalität, um schwer depressiv zu werden.

          Der Melancholische macht also in seiner transitiven Beziehung mit dem eigenen Ich eine intransitive Dimension des Begehrens deutlich: Das Objekt ist nicht etwas, das vom Begehren besetzt wird, sondern eher wie eine hindernde Mauer, die das Begehren schmerzlich ‚im Leerlauf’ zurücklässt. Was das intransitive Begehren betrifft, so macht der Melancholische keine Kompromisse mit sich selbst und er gibt nicht zu, dass sein Hass sich auf jene richtet, die er vermisst.

          Aber woraus besteht dieses Hindernis, das jeder Spiegel darstellt? Was ist die Konsistenz dieser inkonsistenten, aber beharrlich insistierenden Spiegelung?

          Das Hindernis ist der Objektverlust. Dieser Verlust kann zu einer glatten Oberfläche werden, die mit der Reinheit der Leere zusammenfallen kann.  Diese Leere, die das Objekt als Loch signalisiert, übernimmt die unheimlichen, reflexiven Aspekte des Spiegels. Das Loch, welches das Freud’sche Objekt repräsentiert, dem es nicht gelang, mit dem Trieb zusammenzutreffen, wird zu einem reflektierenden Spiegel. Der Verlust des Geliebten lässt uns auf alle erdenkliche Art reflektieren (to reflect: nachdenken, spiegeln, zurückwerfen), so dass wir Gefahr laufen, uns in unser eigenes Spiegelbild zu verlieben.

            Aber wenn die Begegnung mit unserem Defizit als reflektierendem Spiegel unvermeidlich in allen Situationen von Enttäuschung erfolgt, was ist so Besonderes an der narzisstischen Spiegelreflexion? Der springende Punkt ist, dass der Freud’sche Narzissmus nicht so sehr Liebe zum eigenen Spiegelbild ist – Liebe zum eigenen Ich  als Ideal -, sondern Liebe zum Spiegel selbst. Wie D.W. Winnicott (1971, S.132) sagte: Wenn das Gesicht der Mutter unempfänglich ist, „dann wird ein Spiegel zu einem Ding, das man anschaut, in das man aber nicht  hineinschauen kann. “Was den narzisstischen Menschen von jenem Narzissmus unterscheidet, der sich in allen menschlichen Wesen findet, ist diese Tendenz, in die Reflexivität verstrickt zu werden - mit anderen Worten: diese Unfähigkeit, andere transitiv zu lieben. Da die narzisstische Libido nicht ausgebreitet wird in die Welt – die uns interessiert, die wir lieben und an der uns gelegen ist - wendet sich dieses Begehren in seiner Essentialität zurück auf den Melancholiker: Das unglückliche Subjekt kollidiert, durch das narzisstische Spiegel-Hindernis, mit dem Begehren selbst und begreift es in seiner radikalen Wahrheit als Schmerz.

 

 

5.       Moral ist melancholisch

 

          Freuds Denken hätte nicht soviel Erfolg gehabt, hätte es sich lediglich um eine Theorie psychischer Störungen gehandelt. Indem er das Pathologische analysierte, zielte Freud darauf ab, das Pathos bloßzulegen, aus dem wir alle bestehen. So wird die Theorie der Melancholie zum Schlüssel, um unser moralisches Bewusstsein zu erklären: die Tatsache, dass es der Andere in uns ist  (nicht einfach irgendein anderer, sondern der Andere: Vater, Gesetz, Moral, Gott...), der über uns urteilt und uns beurteilt.

           Wir sollten nie vergessen, dass bei Freud das Psychische immer mit dem Außer-Psychischen getränkt ist, das Subjekt ist niemals rein. Freud sagt, dass das Ich nicht Herr im eigenen Haus ist, und damit verleiht er Rimbauds Verdikt Je est un Autre Körper. Tatsächlich ist das Haus des Ichs  immer besetzt vom Nicht-Ich. Ein Teil ist das Über-Ich, der andere ist das Es. Es ist „das Fleisch“ – wie die Theologen es nannten - als sinnliches Begehren; und dieses Fleisch ist im Haus des Ichs  vertreten durch Phantasien, Gefühle und Gedanken, die alle unpassend sind, weil Es ein aufdringlicher Fremder bleibt, ein unwillkommener Gast des Ichs. Ich ist deshalb nur angeblich sein eigener Chef: Es wird notwendigerweise durchkreuzt von einem Über-Ich, das es kontrolliert, und vom Es, das beständig überfließt und Ichs Haus schmutzig macht. Ich bin immer gleichzeitig von beiden bedingt - vom Gewissen jenseits meines Bewusstseins und von der ungebärdigen Unbewusstheit des Fleisches.

          Zum Glück kommandiert uns das Über-Ich  nicht immer in unserem Haus herum -, nicht jeder ist depressiv. Unsere Selbstachtung ist der Beweis dafür, dass das Über-Ich uns, wenigstens zeitweise, verschont. Wenn wir unserem Ich-Ideal gerecht werden, ruht das Über-Ich. Der Melancholische hingegen verliert seine Selbstachtung: Sein Über-Ich, der mitleidlose padre padrone, wütet in seinem eigenen Haus und zwingt ihn zu Boden.

          Aber warum wird der Melancholische vom eigenen Ideal verfolgt? Vielleicht ist das melancholische Subjekt auf sein eigenes Ideal neidisch?  Es könnte sein, dass dieses Ideal, das ihm eigentümlich ist, sich aber irgendwie unpassend anfühlt, ihn überschattet. Und weil er vom eigenen Ideal verdunkelt wird, kommt er schließlich dazu, sich selbst als Bildschirm und Hindernis für sein eigenes Ideal zu empfinden.

          Von daher stammt der weitschweifige Grundtenor der Klagen des Melancholischen. Freud sagt: Warum will der Melancholische nicht aufhören, sich selbst dermaßen ausufernd schlecht zu machen?  Warum bringt ihn nicht die Scham zum Schweigen? Warum dieses ungenierte Schuldgefühl? Ganz einfach: weil das Klagen  ihm Befriedigung bereitet. - Aber wem? Wer ist der Melancholische schlussendlich? Das Ich, das für seine moralischen Sünden leidet, oder das sklaventreiberische Über-Ich, das Befriedigung daraus zieht, ihn zu misshandeln? Für Freud impliziert jedes subjektive Leiden den Genuss des Anderen. Indem das Subjekt leidet, bezieht es Befriedigung woanders her.

          Wenn man etwas hasst, weist man es zurück, man spuckt es aus, wie Freud in Die Verneinung (Freud 1925, GW XIV, S.12) schreibt. Da das Ich  des Melancholischen mit dem gehassten verlorenen Objekt identifiziert ist, will er sich selbst als Objekt erbrechen (der Begriff kommt von ob-jectum: das Weggeworfene). Das ist die Oralität des Melancholischen: Einerseits hat er - ein psychischer Kannibale- den anderen „verschluckt“, indem er ihn (in sich) inkorporiert hat (aber schlussendlich wird er selbst zum enttäuschenden anderen, nicht umgekehrt), andererseits erbricht er sich selbst als jenen schlechten anderen, von dem er sich zu befreien sucht. Daher stammt die Versuchung, sich selbst auszulöschen, sich zu töten - genau dann, wenn die Depression abzunehmen beginnt, wenn die ausgedörrte Verzweiflung im Begriff ist, sich in der Erleichterung durch Tränen aufzulösen. Das Ich erscheint dem Melancholischen als ein unerbittliches Hindernis für sein wahres Sein, es ist die Schranke, die ihn davon abhält, das Leben zu genießen (das sadistische Über-Ich genießt gewiss, aber nicht das Ich!). Selbstmord ist anziehend für den Depressiven als eine Form der Befreiung: die eigene Körper-Psyche zu eliminieren, um den Triumph der Lust zu ermöglichen, auch wenn dann kein Subjekt mehr da ist, um diese Lust zu genießen.

 

 

 

6.       Eros und Thanatos

 

          In seiner Arbeit Jenseits des Lustprinzips (Freud 1920) sagt Freud, dass unsere verschiedenen Triebe in zwei fundamentale Triebe zusammengefasst werden können: Eros und Thanatos. Eros ist der seltsame Trieb, der uns zu den anderen drängt, dazu, uns mit Dingen und mit unseren Mitmenschen zu verbinden, auch um den Preis, dass uns das in viele Schwierigkeiten stürzt. Thanatos jedoch ist der träge Trieb, der uns zur Ruhe drängt, zu gelassenem Rückzug und endgültiger Befriedigung, dem Frieden der Sinne - mit anderen Worten - zum Tod.

          Diese Unterscheidung zwischen den Trieben zum Leben und zum Tod ist sehr komplex, weil Eros und Thanatos einander immer gegenseitig voraussetzen. Ihre Verknotung ist unlogisch. Liebe wird exzessiv und lässt dahinter den Tod aufscheinen, und der Tod magnetisiert immer den Lebensdrang. Wie Ricoeur (1970, S. 292) schrieb, “In gewissem Sinne ist alles Tod, da die Selbsterhaltung der gewundene Pfad ist, auf dem jede lebende Substanz ihrem eigenen Tod nachgeht; in einem anderen Sinn ist alles Leben, weil der Narzissmus selbst eine Form des Eros ist […]. Dieser Dualismus [zwischen Eros und Thanatos] bringt vielmehr die wechselseitige Überlagerung zweier Königreiche zum Ausdruck, die einander vollkommen überdecken.” Es handelt sich um verbundene, verwickelte, nicht-lineare Kategorien. Wir können vereinfachend sagen, dass der Todestrieb uns in Richtung Befriedigung und Lust vorantreibt - er strebt zum Nirwana, wie Schopenhauer sagte. Der Todestrieb treibt uns zum Ende des Begehrens, zum Ende des Schmerzes, der mit dem Leben einhergeht. Eros ist jedoch ein bizarrer gewundener Pfad weg vom Ziel Lust-Tod, er ist eine Zeitverschwendung im Sich-Kümmern um andere, im Hervorbringen neuer Triebe, neuer Verbindungen und neuen Leids. Eros ist ein Hinauszögern des Todes, weil wir vom Lebendigen abgelenkt sind; er ist eine Suche nach einem Grund, für den es sich lohnt zu leben und – vielleicht - zu sterben. Unser ungeduldiger Drang nach Glück ist in Wirklichkeit, so Freud, eine Sehnsucht zu sterben. Aber Eros verlängert unsere todbringende Reise dank einer besonderen Panne: der Liebe.

          Der Todestrieb wird oft mit Destruktivität gleichgesetzt. Eigentlich drückt sich Thanatos aus in der Zerstörung anderer, aber Freud hält dies immer noch für eine Form von „Altruismus“ und daher für erotisch: Die radikale, fundamentale Zerstörung ist die von sich selbst als lebendem Wesen. Er nennt das „primären Masochismus“. Und das ist so, weil das lebende Ich – wie wir in der Melancholie gesehen haben - das zäheste Hindernis auf dem Weg zum Nirwana ist. Grundsätzlich ist der Todestrieb eine destruktive Ungeduld, Lust zu genießen. Auf diese Weise setzt der Melancholische, der bis an den Rand des Selbstmords geht und gelegentlich darüber hinaus, den fundamentalen destruktiven Trieb gegen sich selbst in Gang: Aber er tut dies gerade, weil er immer begehrt. Der Melancholische leidet so, weil er vergebens begehrt.

          Die antiken Stoiker schlugen eine perfektes Rezept vor, um Leiden zu verhindern: Hör auf, irgendetwas zu begehren, und nimm dein Schicksal an, was immer es sei. Der Melancholische folgt diesem Rezept nicht: Er begehrt weiter. Eros stimuliert und bezaubert ihn weiterhin, aber sein eigenes Ich blockiert die Befriedigung, es stellt sich ihr entgegen. Der Melancholische, ein Tatmensch im Begehren, kann die Befriedigung nicht erwarten und stürzt so in den Abgrund. Derselbe Eros, der ihn motiviert, verwandelt den Melancholischen so in einen Soldaten des Thanatos. In ihm bezieht sicherlich das Über-Ich Befriedigung aus der Demontage des Ichs, aber diese Strategie erweist sich als selbstdestruktiv. Wie schon Schopenhauer sagte, Suizid ist nicht Abkehr vom Willen, sondern vielmehr die Unterwerfung unter einen rücksichtslosen Willen.

 

 

7.       Der Zynismus des Glücks

 

          Die Depression ist also der Preis, den wir für eine Flucht in Richtung Glück bezahlen. Aber heute, nach Freud, glauben wir, dass diese Flucht nicht auf jene beschränkt ist, die der Melancholie zum Opfer fallen: Sie gilt in der modernen Welt für uns alle. Wir sprechen heute unablässig über Depression und Narzissmus, weil wir spüren, dass in diesen Winkeln von Reflexion oder Schmerz eine kostbare Wahrheit über unseren Lebensstil verborgen ist. Für viele Denker - wie Christopher Lasch (1979) –  ist unsere Zivilisation in ihrer ganzen Verfasstheit narzisstisch. Das bedeutet, dass sich unsere Vorstellungen von idealen Zuständen verglichen mit früher verändert haben.

          Unser verbreitetes Ideal ist heute nihilistisch. Freud sagte, dass der Mensch von einem - zugleich biologischen und ethischen -  Gesetz regiert wird, das Lustprinzip genannt wird. Wenn wir den anderen begehren, sind wir in Eros; wenn dieses Begehren in der Lust ausgelöscht wird, sind wir in Thanatos. Heute haben wir das Lustprinzip zu unserem modernen narzisstischen Ideal gemacht. Die Kraft, begehren und genießen zu können, ist unser Ideal. Wir wollen, zuerst und vor allem anderen, begehren.

          Aber für den Menschen ist Lust (Begierde, Gier, Wollust)  das einzige Ideal, das bleibt, wenn das Leben den Sinn verloren und er alle anderen Ideale aufgegeben hat. Lust ist das Ideal des Nihilisten. Und ist unsere Gesellschaft nicht aggressiv nihilistisch? Leben wir nicht einer Zivilisation, in der große Ideale nicht mehr idealisierbar sind?

          Die Depression beweist, dass Lust keinen Sinn stiften kann, dass sie das Leben nicht beleben kann. Die Melancholie beweist, dass LUST, als Ideal oder Prinzip, das tödlichste Hindernis für die Lust werden kann, außer wenn Lustgewinn zum Lebensideal wird, wie es das für die Libertin-Helden einiger Romane des 18. Jahrhunderts war. In der Tat lässt sich Don Juan - ein Märtyrer der LUST - lieber vom Steinernen Gast in die Hölle zerren, als dass er bereuen würde.

          Aber die depressive Drohung magnetisiert das moderne Denken, weil unser Lebensstil in Melancholie und Narzissmus die Widerspiegelung und die Kehrseite des eigenen Nihilismus hineinliest: die Schwierigkeit, den Untergang aller Werte, sogar des LUSTPRINZIPS, zum letzten und radikalsten Wert zu erheben.

 

 

8.       Ursachen und Schuld

 

          Wie situieren wir die Freud’sche Sicht der Verzweiflung in Bezug auf andere frühere, zeitgenössische oder spätere  Ansätze? Heute hält niemand die Psychoanalyse für eine Wissenschaft, aus dem einfachen Grund, weil ihre Hypothesen nicht durch die Verwendung wissenschaftlicher Protokollformen kontrolliert werden können. Aber viele psychoanalytische Theorien verführen uns trotzdem: Sie sind überzeugend, indem sie einer Zeit, in der Wissenschaft und Technik mehr und mehr dominant sind, vollkommen angemessen scheinen.

          Deshalb ist die Psychoanalyse, obwohl keine Wissenschaft, überzeugend für Männer und Frauen unseres wissenschaftsdominierten Zeitalters. Tatsächlich scheint Freud nach einem dritten Weg zu suchen zwischen einer  positiven wissenschaftlichen Sichtweise einerseits und einer negativen spiritualistischen andererseits. Unsere Zivilisation wirkt tatsächlich gespalten zwischen einer Kultur, die nur an Ursachen interessiert ist (von denen die meisten konkrete und materielle Ursachen sind) und einer, die stattdessen die Dimension von Sinn und Bedeutung betont. Daher herrscht in der Psychiatrie der biologistische Zugang vor, der auf die hirnphysiologischen Ursachen der Depression setzt; andererseits hält sich ein phänomenologischer oder existentieller Zugang, der versucht, sogar die schwersten Depressionen verstehbar zu machen und Erklärungen und Bedeutungen zu entdecken. Die Psychoanalyse versucht dagegen, in einem unbekannten prekären Raum zwischen wissenschaftlicher Kausalität und phänomenologischer Bedeutung zu segeln. Auf diesem Hochseil prüft die Psychoanalyse kausale Erklärungen, während sie zugleich den humanistischen Hunger nach Bedeutung zu befriedigen sucht. Die Psychoanalyse versucht die Quadratur des Zirkels an der Lücke zwischen Ursache und Sinn dank ihrer „konfliktualistischen“ Vision: Jedes Subjekt ist ein Schlachtfeld von Konflikten zwischen Ich, Über-Ich und Es, zwischen Eros und Thanatos sowie zwischen widersprüchlichen und flüchtigen Impulsen. Nun lässt jede Schlacht, genau weil ihr Ausgang ungewiss ist, Raum für die marginale Freiheit des Willens, für die Freiheit zu Entscheidungen und zur Begeisterung. Auf einem Schlachtfeld - und das sind wir nach Freud - werden Ursachen und Bedeutungen unauflöslich miteinander verknüpft. Die Psychoanalyse bleibt dem Grundsatz treu, dass die Dinge wirklich zu erklären auch bedeutet, ihre Ursachen zu finden, aber zugleich erlaubt sie zu hoffen, dass es eine gute Sache ist, sich und andere irgendwie zu verstehen.

          Im Fall der Melancholie bestand Freuds tour de force darin, sie auf eine Art zu beschreiben, die von der Unmöglichkeit ausgeht, Ursache und Schuld zu trennen -, das heißt, wir sind depressiv, weil wir einen Verlust erlitten haben (Ursache), aber auch, weil wir narzisstisch, mit anderen Worten, auch in einer Weise schuldig sind (Sinn, Bedeutung). Melancholie wird verursacht durch einen Verlust, der uns zustößt, aber sie enthüllt auch unsere narzisstische Eitelkeit. Für die alten Griechen waren Ursache und Schuld ein und dasselbe: aition. Aus ihrer Sicht bedeutete ‚etwas zu verursachen’ an dieser Veränderung schuld zu sein. Freud scheint zu den Denkern der Antike zurückzukehren, die keine strenge Unterscheidung trafen zwischen der mechanischen Welt konkreter Dinge und der geistigen Welt des freien Willens. Nicht in dem Sinne, dass wir in mancher Hinsicht schuldig sind und unschuldig in anderer: Für Freud sind Schuld und Unschuld in eine Endlosschlaufe eingebunden, die beide relativiert. Wir sind gleichzeitig Opfer und Verfolger. Die Psychoanalyse spricht einerseits frei („du leidest wegen eines frühen Traumas, deine Mutter war nicht gut genug mit dir, dein Vater war pervers“ etc.) und klagt auf der anderen Seite an („du leidest, weil du narzisstisch bist, weil du in der Vergangenheit feststeckst, du musst dich statt dessen dem Eros öffnen“). Aber Ursache und Schuld sind nicht zwei Hälften desselben Kuchens, die in der Praxis getrennt werden könnten: Die Psychoanalyse sagt, dass Ursache und Schuld dasselbe sind, d.h. verschiedene Betrachtungsweisen für dieselbe Frage oder besser: zwei Momente derselben Sache. Jede Psychopathologie ist, in gewisser Weise, erlitten und gewählt zugleich; sie ist ein Schatten, von dem wir uns befreien müssen, aber auch die Strafe für eine unwissentliche Feigheit, die uns verfolgt. Psychoanalytische Theorie strebt deshalb danach, das richtige Timing zu finden: Ursachen aufzuzeigen oder Bedeutungen zu entziffern je nach Notwendigkeit. Es ist eine Frage des kairos, des richtigen oder günstigen Moments, eine Praxis, die den flüchtigen Moment zu erfassen sucht.

 

 

 

 

Teil II

 

Dieser zweite Teil, eine erste Fassung, ist unvollständig und unausgewogen. Ich entschuldige mich bei der Leserin/dem Leser, dass ich noch nicht Zeit hatte, ihn fertig zu stellen- ich werde jedoch meine in diesem Text vorgestellten Gedanken bei der Zusammenkunft in Zürich weiter ausführen.

 

 

1.

          Bis hierher haben wir versucht, Freuds Theorie der Melancholie zu beschreiben, ohne sie wirklich im Kontext seines gesamten theoretischen Systems zu betrachten. Zunächst aber - ist die Freudsche Theorie ein konsistentes System? Das heißt: bis zu welchem Grade ist, was er über Narzissmus, Ambivalenz und das verlorene Objekt sagt, logisch konsistent mit allen seinen wichtigeren Konzepten?

Ich möchte die Freudsche Theorie der Melancholie betrachten, indem ich von seinem Narzissmuskonzept ausgehe, aber aus einem neuen Blickwinkel.

Die Mehrdeutigkeit des Freudschen Narzissmus wird bereits 1909 bei Freuds erstem Gebrauch des Wortes ersichtlich:

„...dass die später Invertierten in den ersten Jahren ihrer Kindheit eine Phase von sehr intensiver, aber kurzlebiger Fixierung an das Weib (meist an die Mutter) durchmachen, nach deren Überwindung sie sich mit dem Weib identifizieren und sich selbst zum Sexualobjekt nehmen, das heißt vom Narzissmus ausgehend jugendliche und der eigenen Person ähnliche Männer aufsuchen, die sie so lieben wollen, wie die Mutter sie geliebt hat”[1]

 

Freud setzt also von Anfang an Narzissmus nicht ausschließlich mit Liebe zu sich selbst gleich, sondern sieht im Narzissmus, dass dieses “sich selbst“ (im Original deutsch) vom Subjekt geliebt wird als das Objekt, das von der Mutter geliebt wird. Narzissmus ist einfach: „Ich liebe mein eigenes Bild wie das Objekt, das vom Anderen geliebt wird.“ Daher ist für Freud unsere narzisstische Liebe zu uns selbst nie „natürlich“ oder primär. Er beschreibt Narzissmus manchmal wie eine automatische Reaktion, die in einer primitiven Libidoposition wurzelt: wenn wir physischen Schmerz empfinden, regredieren wir schnell auf den Egoismus des Babys. Aber gleichzeitig, und von Anfang an, beschreibt Freud diese narzisstische Reaktion als eine Entfremdung des menschlichen Wesens in der Liebe und dem Begehren des Anderen: wir lieben uns selbst nicht um unsere Körper vor Schaden zu bewahren, sondern weil wir von Anfang an „korrumpiert“ sind durch die Liebe des Anderen, der nicht will, dass wir Schaden nehmen. Wir passen auf uns selbst auf, weil ein „anderer“ uns liebt.

Einige Psychoanalytiker, z.B. Laplanche, haben dieses Primat des Anderen theoretisiert: alle psychischen Wechselfälle gehen von eine Art initialer primärer Gewalt des Anderen aus, der das Kind verführt und es in vorzeitige erwachsene Gefühle und Erfahrungen initiiert.

          Aber es ist sogar noch komplizierter. Die Antwort auf die Frage, was „das Liebesobjekt des Anderen sein“ bedeutet, ist schwierig, weil das Objekt der Liebe, des Interesses, des Begehrens – nach Ansicht Freuds  und vieler Philosophen- nie identisch ist mit der realen äußeren Person.

          Auf die Frage, warum der andere uns liebt oder begehrt, müssen wir, um mit Freuds Theorie im Einklang zu sein, antworten: „Weil der Andere, Vater/Mutter

(the parent), sein/ihr (=im Original groß geschrieben) Spiegelbild in den Kindern liebt.“ Das narzisstische Subjekt liebt sich selbst in demselben Maß, wie sein elterliches Objekt (parent) ihn liebt, aber diese Elternfigur (parent)  im Kind liebt sich selbst. Narzissmus ist immer Narzissmus des Narzissmus, ein Narzissmus zweiten Grades- nie primär (außer im Mythos des primären Narzissmus, einer reinen Spekulation). Narzissmus ist eher eine Beziehung, eine soziale Verbindung, als ein Persönlichkeitstypus- weshalb Freud oft diejenigen als narzisstisch beschreibt, die von Narzissten bezaubert sind, oder umgekehrt jene, die von anderen narzisstisch geliebt werden. Das Freudsche Narzissmuskonzept ist befremdlich, weil es  sich unvermeidlich zwischen dem logischen Subjekt und dem logischen Objekt, dem Liebenden und dem Geliebten, hin und her bewegt.

 

 

2.

          Die meisten der post-Freudianer haben Freuds Insistieren, dass der Narzisst das von der Mutter geliebte Objekt liebt, als Aufforderung verstanden, die frühen Beziehungen zwischen Mutter und Kind eingehender zu untersuchen. Deshalb beschäftigte sich die post-Freudsche Debatte hauptsächlich mit der Entwicklung der kindlichen Sexualität oder Persönlichkeit. Was diese Theoretiker vergessen, ist, dass sich Freud, wenn er über Entwicklungsstadien der frühen Kindheit spricht, auf Annahmen aufgrund von Analysen von Erwachsenen bezieht. Wenn er sagt, „Mein Analysand regredierte auf die orale Phase, wo er von seiner Mutter genährt wurde“, so täuschen wir uns, wenn wir das tatsächlich als historische Hypothese interpretieren, die durch eine unabhängige historische Forschung über die Entwicklung dieses Subjekts überprüft werden kann. Freud missverstand seine eigene Auffassung, wenn er sagte, dass der Analytiker eine historische Wahrheit rekonstruieren müsse- frühe Traumata, die Urszene und andere coup de théâtre[2] , weil dies den brüchigsten Teil der Psychoanalyse für bare Münze nimmt: ihren Anspruch, wahre Geschichten zu erzählen.  Wenn Freud über frühe Kindheit spricht, spricht er über eine narration (mit Lyotards Begriff), über einen Mythos, der in der Lage war, das Subjekt aus seiner fixierten Faszination mit sich selbst herauszubewegen.

          Freud stellt keine wissenschaftliche Hypothese auf, wenn er seinen homosexuellen Analysanden sagt, „Wenn Sie sich von diesem jungen Mann angezogen fühlen, dann lieben Sie das schöne Kind, dass Sie für Ihre Mutter waren.“ Er weist auf einen Mythos hin, der für den Analysanden von Wert sein könnte, aber für Verhaltenswissenschaftler nutzlos sein dürfte. Es ist wahr, dass heute Untersuchungen in Mode sind, die sich auf die „Bindungstheorie“  beziehen, aber diese Art Entwicklungsstudien entfernen sich immer mehr vom psychoanalytischen Zugang.

          Was für einen Analytiker entscheidend ist, ist die Tatsache, dass ein Subjekt sich aus dem befreien kann, was er oder sie als die eigene Realität betrachtet. Analyse ist mehr ein ethischer als ein wissenschaftlicher Akt: sie sagt nicht „das ist Ihre tiefe, objektive Realität“, sondern eher „Was Sie für Ihre tiefe, objektive Realität halten, ist eine Konstruktion, die de-konstruiert werden sollte.“ Der Analysand sagt für gewöhnlich, „Das ist einfach wie ich bin, ich bin das einfach, und wie können Sie das verändern?“ Aber der schlaue Analytiker weiß einen Ausweg: „Was Sie für „das“ halten, Ihr Selbst, ist das Objekt Ihres Vaters, Ihrer Mutter- es ist Ihr Anderer.“       Trotzdem findet sich der gerissene Analytiker, wenn er zu theoretisieren anfängt, oft in dem langen Rennen des Achilles hinter der Schildkröte wieder. Wo er in die endlose Debatte zwischen Selbst-Psychologie und Objektbeziehungs-Psychologie eintritt, verhält sich der Analytiker, als ob er zum Analysanden sagen würde: „Ich weiß tatsächlich- wissenschaftlich, rigoros, medizinisch- was Sie sind, [ich kenne] Ihr Selbst.“ Doch der theoretisierende Analytiker begeht denselben Fehler, den sein Klient beging, als er sagte „Ich bin genau das, etwas, einfach ich...selbst.“: der Analytiker glaubt dann, dass das Subjekt etwas sei. Psychologische Theorie- die psychologische Interpretation von Freuds Theorie- ist der Narzissmus des Psychoanalytikers.

          Das ist eine produktive Mehrdeutigkeit im Freudschen Narzissmus:  einerseits ist der Narzissmus eine Vernarrtheit in eine lächerliche Identität (sameness ) des Subjekts, andererseits bereitet er das Subjekt darauf vor, sich auf dramatische Weise mit einem absoluten, oft überwältigenden Anders-sein (otherness) zu kreuzen, weil es über-ideal ist (super-ideal).

 

3.

          Die wirkliche Schwierigkeit mit Freuds Arbeit “Zur Einführung des Narzissmus” liegt nicht darin, wie genial er im Schmelztiegel des Narzissmus so verschiedenartige Phänomene wie körperlichen Schmerz, Schlaf, Hypochondrie, Schizophrenie, Humor, große Verbrecher, Homosexualität, Faszination durch schöne Frauen, Raubtiere, Katzen, Kinder, Selbstachtung und Verliebtsein miteinander verbindet. Die Schwierigkeit liegt darin, dass seine verschiedenen Auffassungen des Narzissmus nicht auf eine logisch konsistente Art zusammenfallen oder übereinanderpassen.

          Beim Versuch, das Puzzle der Freudschen Theorie zu beschreiben, habe ich einige einfache mathematische Funktionen zu Hilfe genommen. Eine Funktion ist in der Mathematik, wenn (wörtlich übersetzt, Anm.Ü.) die semantische Dimension einer Grösse sich proportional ändert im Verhältnis zu den Abweichungen der semantischen Dimension einer Größe, die mit der ersteren in Verbindung steht. Ein funktionaler Begriff ist nicht absolute Identität, sondern eine Variable : etwas, das in dem Maß variiert wie die komplementäre Variable.

          Freud spielte mit drei zentralen Begriffen: Ich (im Englischen übersetze ich es mit I, nicht mit Ego oder Self), Ideal and Objekt. Wenn Freud diese Konzepte verwendet, dann habe ich den Eindruck, dass jeder Begriff in Beziehung zu den anderen beiden aussagekräftig wird. Daher sprach er über Funktionen (Abb.1).

 

 

 

          Ich habe hier neben Ideal und Object  die Begriffe in ihrer Entsprechung im Lacanianischen Vokabular eingetragen: the Other (mit grossem O) steht an der Stelle des Freudschen Ichideals; other (mit kleinem o) steht an der Stelle des Freudschen Objekts (und Lacan selbst nennt es im allgemeinen objet a, “der kleine andere“).

          Unter Ichlibido versteht Freud eine psychische Beziehung zwischen Ich und meinem Ideal. Je reicher mein Ideal ist, desto ärmer mein Ich, und umgekehrt.

          In Freuds Begrifflichkeit gibt es eine Ambiguität in Bezug auf Ich ( the “I”): dieses ist gleichzeitig das Ganze, das Subjekt, und ein Bestandteil oder eine Instanz davon. Noch bevor er die zweite Topographie entwarf (die Triade Ich/Über-Ich,Es), ist Freuds Ich schon eine Gruppe von Instanzen (a set of instances) und gleichzeitig  eine dieser Instanzen. Die Entwicklung des Konzepts des Selbsts in der englischsprachigen Psychoanalyse ist eine Art, diese Ambiguität aufzulösen. Selbst die Franzosen haben das Je vom moi differenziert: Je wäre dann die allgemeine subjektive Funktion, le moi die spezifische Instanz der zweiten Topographie. Aber wir müssen die Ambiguität von Ich ernst nehmen, um Freud wirklich zu verstehen.

          Umgekehrt versteht Freud unter Objektlibido eine Funktionsbeziehung zwischen Ich und meinen Objekten. Aber natürlich gibt es auch eine Beziehung zwischen meinem Ideal und meinem Objekt: je mehr mein Objekt idealisiert ist, desto weniger ist es ein Objekt meines Begehrens. Je mehr mein Ideal objektisiert (objecticized) ist, desto weniger ist es ein Ideal. Die Pfeile in beide Richtungen zeigen an, dass die Beziehung immer wechselseitig und gegenläufig ist: deshalb kann Ichlibido bedeuten “I libido myself“, aber auch „“My Self libidos me”, wenn Sie mir diese seltsame Ausdrucksweise verzeihen, wo to libido ein Verb wird. Und Objektlibido kann „Ich liebe es“ bedeuten und „Es liebt mich“. Das Verwirrende an Freuds Arbeit über den Narzissmus ist, dass er anscheinend den Narzissmus in den Raum der Ichlibido stellte, in die Beziehungen zwischen Ich und Ideal. Aber anderenorts definiert er Narzissmus als nicht spezifisch für die Ichlibido und definiert ihn als Passivmodus der Libido, sogar der Objektlibido. Narzissmus ist dann einfach „ Ideal liebt mich” and “Es liebt mich,”, er ist immer (da), wenn Ich in einer passiven Position bin/ist, als (m)ich selbst. (my-Self) Wirklich sagen wir auf Englisch nie “I-self loves me”, sondern immer “I love myself.” Das “Selbst” steht nie in der Ich-Form, in der aktiven Position [3]Es ist immer eine Spiegelung, ein Bild, des Ich.

          Ich drücke die aktive Beziehung sowohl des objektalen Begehrens als auch der Idealisierung in meinem Diagramm mit zwei Vektoren aus, die von links nach rechts verlaufen. Das, weil bei Freud das Ich die Quelle zugleich des Begehrens und der idealisierenden Kraft ist.  Als Quelle der Objektlibido bin Ich im wesentlichen ein erogener Körper: erregte Organe, eine männliche Erektion oder eine weibliche Vaginalsekretion, Mund, Anus, Muskeln. Als Quelle der Ichlibido bin Ich ....nichts als Auge.(I am just… eye.) Das Ich der Ichlibido ist wesentlich Vision und Denken über Ideale, psychisches Auge oder geistiger Körper. Sind wir sicher, dass diese beiden Ichs zusammenfallen? Freud geht manchmal selbstverständlich davon aus, dass das Ich, das die Brust der Mutter begehrt, sie zu berühren und zu streicheln wünscht, und das Ich, das realisiert, dass es von dieser Brust geliebt wird, dasselbe sind. Aber können wir da so sicher sein? Manchmal erweisen sich die beiden „Ichs“  als verschieden oder entgegengesetzt. Hier liegt ein Problem.

          In passiven Beziehungen- in meinem Diagram durch Pfeile ausgedrückt, die von links nach rechts verlaufen- besetzt Ich den Platz des Objekts. Hier gebe ich der Ambiguität des Freudschen Konzepts Ich-Besetzung (im Englischen “Ego-cathexis,” oder besser, “I-investment.” ) vollen Raum. In diesem Fall gibt es ein Vor-und Zurückpendeln zwischen der objektiven Bedeutung (“Ich werde von Trieben besetzt“) und der subjektiven (“Ich besetze Objekte mit meinen Trieben”). Diese Ambiguität bei Freud ist wesentlich, weil wir im Narzissmus immer eine Verschiebung haben, ein Umschalten von passiv zu aktiv, von subjektiven zu objektiven Formen von Besetzungen.

 

 

 

4.

          Ich möchte hier (fig. 2) die Beziehungen- oder Überlagerungen – zwischen Objekt und Ideal hervorheben (wenn Ich libido und Objektlibido übereinander zu liegen kommen), indem ich eine von Lacan verwendete Unterscheidung weiter auswerte. Ihm fiel auf, dass Freud oft Ich-Ideal schreibt[4] (in meiner verbesserten (reformed) Terminologie engl. I-Ideal), doch manchmal schreibt er ideal Ich[5]

 ( engl.Ideal I). Ist das lediglich ein rhetorischer Unterschied, oder gibt es da eine tiefere konzeptuelle Unterscheidung? Lacan meinte, dass Freud zwei unterschiedliche Konzepte unterscheiden wollte. Von einem Rolls Royce träumen, zum Beispiel, ist Träumen von einem idealen Auto. Aber als Ingenieur, der Autos entwirft, folge ich einem Modell eines Autos, etwas, das kein wirkliches Auto je sein kann; ich denke über das Ideal eines Autos nach. Freuds Ichideal verweist auf das reine Ideal von einem selbst( in unserem Beispiel auf das Ideal eines Autos). Er verwendet „ideales Ich“,(engl.Original: ideal I) um auf ein idealisiertes Objekt hinzuweisen, auf etwas, das auf halbem Weg zwischen dem reinen Objekt und dem reinen Ideal liegt. In diesem Fall ist das „ideale Ich“ ein Grenzfall (borderline), der eine Grenze bezeichnet zwischen Ichlibido und Objektlibido, einen Punkt, wo Ideal und Objekt verschmelzen.

          Freud deutet manische Zustände in Begriffen, die nahe bei diesem „idealen Ich“ liegen. In der Manie wird Ich, das Subjekt, als sehr reich beschrieben; es neigt sich nicht dem Inneren zu, sondern ist sehr extrovertiert, auf das Außen gerichtet, auf einen Punkt wo äußere Objekte und Selbstidealisierungen einander berühren. Die Melancholie, als das Gegenteil der Manie auf derselben Achse beschrieben, fällt mit einem armen „Ich“ zusammen: Ich bin von meinem Ideal und gleichzeitig von meinem Objekt überwältigt, weil hier Ideal und Objekt sich wieder verbünden. So kam es, dass [bei der Melancholie], nach Freud, der Schatten des [idealisierten] Objekts auf das „Ich“ fiel.[6] Wenn Kohut zwischen dem idealisierten Objekt ( dem Objekt der idealisierenden Übertragung) und dem Spiegelobjekt (dem Objekt der Spiegelübertragung) unterscheidet, nähert er sich der Unterscheidung zwischen Ichideal und idealem Ich.

          Diese Graphik könnte erklären, warum Freud in seiner Theorie der Melancholie (und der Manie) jeden Bezug zur Sexualität vermeidet. Im allgemeinen war er in der Lage, die Sexualität in allen Arten psychischer Störungen oder psychischen Leidens zu erkennen – oder glaubte, sie dort erkannt zu haben. Schüler Freuds wie Ferenczi oder Tausk versuchten sogar die durch den Ersten Weltkrieg verursachten traumatischen Neurosen in Begriffen zu erklären, welche die Sexualität ins Spiel brachten! Aber die Sexualität taucht nie auf im Zusammenhang mit Depression und Melancholie.

Heißt das, dass Melancholie vollständig in die Ichlibido eingeschrieben ist? Nein. Ich würde eher sagen, dass die Menschenmenge (the crowd)Massen, Organisationen, Gesellschaften, Institutionen etc.— eine Art von Verbindung ist, die vollständig zur Sphäre der Ichlibido gehört. Tatsächlich führt Freud in seiner Arbeit “Massenpsychologie und Ich-Analyse” sehr klar dar, dass die sexuelle Liebe, das liebende erotische Paar, eine der wichtigsten und wesentlichsten Bedrohungen für jede Art sozialer Bindung und sozialer Kohäsion darstellt. Er glaubte nie daran, dass die sexuelle Liebe des Paares das Grundmolekül irgendeiner weiterreichenden gesellschaftlichen Bindung sei! Gewiss, keine Gesellschaft könnte ohne die Familie überleben, aber die Familie ist nicht das Liebespaar. Das heutige Paradigma der gesellschaftlichen Ordnung wird in den westlichen Gesellschaften hauptsächlich von Kirchen bestimmt,  die, und das nicht zufällig, in den höchsten Tönen die Familienwerte (family values) hervorheben und jede Art von Sexualität fürchten, die von der Familie losgelöst ist. Über Jahrhunderte verkörperte die Sexualität für die Kirchen die schlimmste vorstellbare Bedrohung der sozialen Bindung. Sex ohne Fortpflanzung und eheliche Zusammenarbeit war Teufelswerk, was erklärt, warum Abtreibung, Scheidung, Promiskuität, Empfängnisverhütung, Homosexualität etc von der religiösen Moral immer verurteilt wurden. Nicht zufällig haben sogar nichtreligiöse Ethiken wie Sozialismus und Kommunismus, die davon träumten, Gesellschaften mit maximaler sozialer Kohäsion aufzubauen, früher oder später immer eine gewisse Art von sexueller Askese und Puritanismus propagiert. Für die chinesische Kulturrevolution auf der einen wie fundamentalistische religiöse moralische Grundsätze (christliche, jüdische, islamische und wo weiter) auf der anderen Seite  ist Sexualität immer anti-kohäsiv, ein Todes-Trieb (death drive) für das soziale Ganze.

          Manie und Melancholie sind die zwei Pole einer thymischen[7] Geraden, die die Ichlibido und Objektlibido trennt – beide sind Stimmungszustände, die in sich selbst am weitesten entfernt sind vom reinen Objekt ebenso wie vom reinen Ideal: Objekt und Ideal sind die zwei wesentlichen Formen von Anderssein (otherness). Im thymischen Zustand verblasst das Anderssein und wird zerquetscht an einer Ebene, die ich „ oneselfness“[8] nennen würde.  Das doppelte Anderssein von Ideal und Objekt, d.h. von moralischen Werten und sexueller Liebe, wird hier auf dieselbe Ebene flachgedrückt wie die Verbindung zwischen Ich und Idealich (Ideal Ego), der beiden Pole der Selbstsucht (selfishness). Das Idealich (Ideal Ego) ist ein Punkt, wo Idealisierung und Triebe einander berühren und wo beide „nur ganz allein meine Sache“ (“only my business”) werden.

Die melancholische Person hat das transzendentale Ideal auf die Ebene eines Objekts zerdrückt, und dieses Objekt ist auf ein Bild von ihr selbst reduziert worden. Sogar in den schlimmsten Formen von Schuld-Depression, wo das Subjekt behauptet: “ Ich bin der größte Sünder auf der Welt! Ich werde von unendlicher Schuld zerstört!“ erkennen wir, wie weit wir hier von einem echten Schuldgefühl entfernt sind, wo jemand bitter bereut, was er getan hat. Wie Freud sagte, in dem Depressiven, der sich selbst als schlimmsten Sünder auf der Welt beschuldigt, ist einiger Größenwahn. Im Gegenteil: wer wirklich bereut, schämt sich seiner Sünde, es gibt kein erkennbare Befriedigung am hyperbolischen Charakter seiner Schuld. Der wirklich Reumütige hält sich nie für großartig als Sünder, sondern hat eher mit einem wirklichen Ideal zu tun, das des-inkarniert ist und vollkommen unabhängig von ihm selbst: seine schamerfüllte Reue umgibt ihn nicht mit dem Heiligenschein eines ins Gegenteil verkehrten Idealbilds. Der Reumütige wird von einem authentischen Anderen bestraft und getadelt (Gott, Allah, die Partei beim Kommunisten, das Volk beim Anarchisten), kein Objekttrieb kommt ins Spiel. Der wirklich Reumütige ist nicht narzisstisch. Stattdessen erdrückt in der Melancholie das Idealich (Ideal Ego) das Ich, weil das Ich (hier englisch: Ego) zum idealisierten Objekt des Subjekts geworden ist, und als idealisiertes Objekt  macht das Ich (Ego)  dem „Ich“ Vorwürfe. Das melancholische Gewissen ist wie ein Liebender, der, vom Subjekt enttäuscht, nie aufhört, ihm die Schuld zu geben. Melancholie nimmt die Gestalt des typischen Paarkonflikts an: der andere ist hier nicht eine andere Person, sondern das Ich (Ego) des Subjekts ( sein wichtigster Liebhaber), das sich rächt, indem es dem Subjekt unaufhörlich die Schuld gibt. Keine soziale Dimension tritt in die Melancholie ein, die sich stattdessen in einer Art zweifachen sado-masochistischem Tanz vollzieht (mit zwei Instanzen, die im Innern des Subjekt selbst gespielt werden)  Für Freud ist unsere Stimmung nie einfach etwas Intimes, ein einsames Phänomen, sondern impliziert immer zwei Akteure: im Fall der Manie einen, der den anderen bewundert, im Fall der Melancholie einen, der den anderen beschuldigt. Aber dieses seltsame Paar ist eine und dieselbe Person, wie in einem Stück, in dem ein Schauspieler zwei verschiedene Rollen spielt.

          In diesem Sinn spricht die Freudsche Theorie der Melancholie immer in Begriffen von sowohl Ich-Objekt als auch Ichideal-Beziehungen: die beiden Beziehungen werden gegeneinander plattgedrückt. Melancholie und Manie sind wie jener Teil der projektiven Geometrie, wo dreidimensionale Objekte auf eine zweidimensionale Oberfläche „projiziert“ werden. Die Stimmungspsychosen (mood psychoses) sind flach, ohne Dicke: das Ideal ist immer „jemand“ und andere sind nichts als ideale Stimmen. Das ist der Grund, warum es unmöglich ist, die Melancholie zu deuten: ihr Mangel an Tiefe macht jeden Versuch, Dinge in Perspektive zu rücken, vergeblich. Melancholie hat keine unbewussten Inhalte, sie ist nichts als sadistischer Genuss in Aktion.

 

 

 

 

5.

          Was passiert, wenn Objekte und Ideale sich überlagern( die vertikale Achse im Diagramm)? Für Freud ist die Bewegung von Objekten in Richtung auf Ideale sehr verschieden von den Bewegungen von Idealen in Richtung Objekte: diese zwei Bewegungen bringen unterschiedliche Phänomene hervor. Wenn das Objekt in eine idealisierte Position gebracht wird, haben wir etwas vor uns, das Freud in Massenpsychologie und Ich-Analyse  als Führersyndrom beschreibt. Ich ziehe es vor, das deutsche Wort Masse im Englischen eher mit crowd(Ansammlung, Menschenmenge, aber auch Gedränge) als mit group zu übersetzen. Nach Freud haben wir eine strukturierte Menge vor uns, wenn ein äusseres Objekt - der aufkommende Führer- „mein“ libidinöses Objekt ersetzt und an die Stelle „meines“ IchIdeals gesetzt wird.

          Freuds graphische Darstellung (fig. 3)[9], um diese Dynamik zu charakterisieren, ist ähnlich wie mein Diagramm:

 

In dieser Abbildung repräsentiert Freud auch ein äusseres Objekt, während in meiner nur das libidinöse Objekt erscheint, weil nur diese Art Objekt Teil einer Funktion sein kann, d.h. in Beziehung zu den anderen Funktionen beschrieben werden kann. Ich sollte vielleicht hinzufügen, dass Freud, wenn er Menschenmengen in dieser Art beschrieb, dabei eine „Massenbildung zu zweien“ einschloss: die Hypnose. Jeder Psychoanalytiker muss ethisch beständig das Gleichgewicht suchen zwischen „einer Massenbildung zu zweien“ und etwas anderem. Psychoanalyse ist gefordert, einen soziale Bindung zu schaffen, die der Menschenmenge ähnelt, dem Verliebtsein und der Manie, aber doch grundlegend von diesen verschieden ist. Die Hypnose- „die Massenbildung zu zweien“- ist das ethische Scheitern der Psychoanalyse: diese überlebt nur dank dem Gedanken, dass zwischen zwei Personen (AnalytikerIn und AnalysandIn) etwas anderes möglich ist als eine erotische Liebe und/oder eine Beziehung Masse/Führer.       

          Massen und Hypnose (als öffentliche Formen von Liebe) sind genau das Gegenteil von dem, was Freud Verliebtsein nennt (private Liebe). Im ersten Fall wird das Ideal dem begehrten Objekt entgegengeschoben: in der Führer-organisierten Masse wird ein Ideal objektifiziert. In der Liebe zwischen einem Mann und einer Frau, oder zwischen zwei Männern oder zwei Frauen, wird ein Objekt idealisiert.

          Freud schreibt:

 

“Die Verliebtheit besteht in einem Überströmen der Ichlibido auf das Objekt (…) Sie erhebt das Sexualobjekt zum Sexualideal. Da sie bei dem Objekt- oder Anlehnungstypus auf Grund der Erfüllung infantile Liebesbedingungen erfolgt, kann man sagen: Was diese Liebesbedingungen erfüllt, wird idealisiert” (…) Was den dem Ich zum Ideal fehlenden Vorzug besitzt, wird geliebt”.

 

          Massen, ob Kirche, Armee oder Hypnose auf der einen, oder die idealisierte Liebe zwischen zwei sexuellen Partnern auf der anderen Seite, besetzen die gleiche Achse, sind aber seitenverkehrt, wie in einem Spiegel: wenn ich als Teil der amerikanischen Masse den Präsidenten Obama liebe, mache ich mein Ideal ärmer, indem ich es mit einem „starken und weisen“ Mann identifiziere; ich lasse das Objekt in mein Ichideal eindringen. Aber wenn ich, entfernt von der rüden Masse, meine Frau liebe, in unserem lieben Zuhause, wird sie idealisiert, und ist nicht mehr nur eine weibliche sexuelle Partnerin; ihre Objekthaftigkeit (objectness) wird überwältigt von meiner Idealisierung. Darum muss in der idealisierten Liebe das Liebesobjekt als Objekt verloren gehen oder ausgelöscht werden: Dante hätte nie Sex haben können mit seiner geliebten Beatrice. Sie musste jung sterben.

 

 

 

6.

          Um mein Diagramm besser verständlich zu machen, ersetze ich (Abb. 4) diese rein theoretischen Begriffe durch bekannte Helden und Heldinnen. Im wirklichen Leben, außer in der Psychose, begegnen wir Beziehungen zwischen Ich, Ideal und Objekten nur in bescheidenen Ausmaßen. Literatur und Philosophie stellen uns hingegen klar umrissene Extremfälle zur Verfügung.

 

 

Don Juan, ein Produkt des katholischen Theaters des 17.Jahrhunderts, verkörpert die reinen Grenzen der aktiven objektalen Libido: “ Ich bin Objekten (Frauen) gegenüber ganz Libido, aber sie sind nie mein Ideal; ich zähle sie nur als eroberte Objekte.” Im Don Juanismus, wie er von Tirso de Molina, Molière and Mozart stilisiert wurde, sehen wir eine asymmetrische Ausdehnung des Ich als absolute objektale Libido, die alle Frauen—ob alt oder jung, reich oder arm, schön oder hässlich—nur auf “1003 Objekte” reduziert. Don Juan repräsentiert die blinde Unschuld eines rein libidinösen Ich. Aber es ist eine furchtbare Unschuld, da das Ichideal diese libidinöse Orgie in der furchterregenden Gestalt des Steinernen Gasts betritt, in der Statue, die schliesslich Don Juan tötet. Dieses Theaterstück führt das Ichideal in seiner anti-subjektivsten Ausprägung vor, als Geist, als Maschine vollständig ausserhalb einer lebendigen libidinösen Beziehung.

          Die seitenverkehrte Beziehung – wo „Ich“,  in einer passiven Position, von Objekten begehrt werde- wurde ebenfalls dramatisch dargestellt, so in der zynischen und schönen Lulu bei Franz Wedekind. Lulu ist die “femme fatale”, obwohl sie irgendwie kein “Ich” hat—Don Juan hat zuviel “Ich” , Lulu keines. Sie wird nur geliebt, von Männern oder Frauen, sie selbst liebt nicht. Es ist nicht zufällig, dass ihre Liebhaber in der Regel Künstler sind, Leute vom Theater oder aus dem Unterhaltungsmilieu- kurz, Bildermacher. Lulu ist ihr Artefakt, ihr reines „Liebesbild“. Beachten Sie, dass Lulu hauptsächlich mit Hilfe ihres eigenen Porträts verführt: sie ist lediglich ein Bild für andere, sie hat beinahe keine „Substanz“. Sie ist der Schein, die Chimäre derer, die sie lieben, ein Rätsel für andere, weil ihr Wesen nur darin besteht, von ihnen geliebt zu werden.

          Wenn wir von der Objektlibido zur Beziehung zwischen Ich und Ideal springen, begegnen wir Inkarnationen einer reinen Ichlibido an den Grenzen zu mystischer Erfahrung. Don Juan und Lulu sind Vertreter einer Objektlibido ohne den Schatten einer Idealisierung; es gibt aber auch Vertreter reiner Ichlibido ohne den Schatten eines Objekts. In diesem Extremfällen finden wir anstelle des Ichideals die typische Metapher jeder höchsten Idealisierung: Gott. Aber die „normale“ Beziehung des Mystikers zum höchsten Ichideal, Gott, ist im allgemeinen personalisiert, weil der Gott, dem der Mystiker begegnet, immer in irgendeiner Weise objektifiziert ist. Er wird zum persönlichen „Gott desAbraham and des Isaak,” oder Christus, „Mensch gewordener Gott.” Der Gott der monotheistischen Religionen ist der höchste Führer der Menschenmengen, ein Ideal gedrängt voller Kirchen, was impliziert, dass er ein Objekt ist. (Object mit grossem O im engl.Original)

          In Schrebers mystischem Wahn finden wir die reine Inkarnation eines Subjekts, eines “Ich”, das von seinem Ideal vollständig überwältigt wird, von seinem lüsternen perversen Gott. Schrebers “Ich“  wird darauf reduziert, die Freundin dieses extrem intrusiven Gottes zu sein, oder noch besser, Gottes Hure. Schrebers Paranoia zeigt eine extreme Möglichkeit auf: “Ich” ist komplett und passiv besetzt durch sein Ideal, das nun die unheimliche Form eines rücksichtslosen Gottes annimmt. Dieses omnipotente Ideal absorbiert alle Objektlibido.     

          Das Gegenstück zu Schrebers Erfahrung wird von Nietzsche beschrieben, der selbst der Psychose nah war. In Also sprach Zarathustra ist Zarathustra, der Prophet des Übermenschen , des über-den-Menschen-hinaus-Menschen [Super-Man, or better: Beyond-Man], ein Subjekt, ein “Ich,”  das Gottes Platz eingenommen hat: er hat Gott und jedes Ichideal getötet und sich selbst als sein eigenes Ideal gesetzt. Das ist die extreme Prophezeiung einer radikalen Revolte menschlicher Subjektivität gegen jede theologische Idealisierung. Zarathustra idealisiert diese Tötung des Über-Ichs und die Vergöttlichung des Menschen.

          Auf der Mittellinie- die ich die thymische (von thymos, Stimmung) Gerade nenne, die Ichlibido von Objektlibido scheidet, die Gerade, die von der Melancholie zur Manie verläuft- finden wir zwei Pole, die durch die Sage von Narziss und Echo beschrieben werden. Narziss verkörpert die Position des „idealen Ich“, den  fragilen Punkt, wo Ideal und Objekte gleich weit vom Ich entfernt sind, während Idealisierung und Objektalisierung in einem unstabilen Gleichgewicht stehen. Am entgegen gesetzten Ende finden wir Echo, die Nymphe, die den Narziss liebt, aber nicht wiedergeliebt werden kann, weil sie nur ...das Echo des Ichs ist. (ego’s echo) Sie vertritt die subjektive Vernichtung, in der die/der Liebende darauf reduziert wird, der verblassende Schatten des Geliebten zu sein. Die ewige schüchterne alte Jungfer, die gleichzeitig vom Ideal und von jedem männlichen Partner zurückgewiesen wird.          Entlang derselben Linie zwischen der verschwindenden Nymphe Echo und dem übermäßig hervortretenden Narziss[10] können wir die gegensätzlichen Helden platzieren, die Goethe schuf. Am melancholischen Ende dieser Linie ist der traurige suizidale Werther, und am manischen Ende der Triumph des übermenschlichen Faust, der die Gesetze von Göttern und Menschen hinter sich lässt. Generell finden wir in Goethes Welt die poetischen Inkarnationen einer Art von Subjektivität, die zwischen maximaler Idealisierung und der krudesten libidinösen Triebhaftigkeit balanciert.

          Wo das Ichideal sich zu den Objekten hin bewegt, in Richtung auf diese „geringeren“ liebenswürdigen Objekte, die Frauen und Männer sind, finden wir die berühmten Liebespaare der abendländischen Literatur. Auf diese Linie habe ich ein Paar eingetragen, das Italiener besonders gut kennen: Dante and Beatrice. Beatrice war für Dante  der Schatten eines Ichideals, der auf sein Objekt fiel; indem sie (in der Divina Commedia) die Theologie symbolisiert, treibt Beatrice Dante Gott, dem idealen Anderen, entgegen. Im Paradies führt sie Dante zu Gott...

          Auf der anderen Seite finden wir die typischen Gruppenmechanismen in der psychoanalytischen Masse- das heißt, in psychoanalytischen Instituten und Schulen. Hier spiele ich auf die tödliche Beziehung (tödlich nach der Rekonstruktion von Roazen) zwischen Freud und seinem gescheiten Schüler Tausk an- der Schüler beging Selbstmord. In der idealisierten sexuellen Liebe muss das geliebte Objekt sterben, und in der objektifizierten Liebe zum Meister ist es oft der Jünger, der Schüler, der sterben muss. Hier stoßen wir auf eine auffällige Umkehrung: jede Institution tendiert dazu, einem Heer zu gleichen, in dem die Generale überleben und die Soldaten (die Jünger) sterben, und jede sublime Liebe tendiert hin zur Trauer, wo der Liebende überlebt und vom Geliebten nur die Erinnerung bleibt.

 

 

(Übersetzung B.Koch, Zürich)

 

 

 

 

 

Literatur:

Baudelaire, C. (1861) “Heautontimoroumenos”, LXXXIII.

 

Butler, S. (1909) The Collected Works of Samuel Butler, A.R. Waller, editor, vol. 2, Characters and Passages from Note Books, Cambridge, Cambridge English Classics.

 

Cioran, E.M. (1973) De l’inconvénient d’être né (Paris: Gallimard).

 

Freud, S. :

-         (1914a) Zur Einführung des Narzissmus,GW, X, pp. 137-170; SE, 14, pp. 73-102.

-        (1914b) Trauer und Melancholie, GW, X, pp. 427-446; SE, pp. 242-257.

-        (1925) Die Verneinung, GW, pp. 11-15; SE, pp. 235-239.

 

Lasch, C. (1979) The Culture of Narcissism (New York: Warner Books).

 

Leader, D. (2008) The New Black. Mourning, Melancholia and Depression (London: Hamisch Hamilton).

 

Ricoeur, P. (1970) De l’interprétation. Essai sur Freud (Paris: Editions du Seuil).

 

Winnicott, D.W. (1971) Playing and Reality (London: Pelican).

 

 



[1] Anm.d.Übersetzerin: Fussnote zu den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, die Freud bei der 2.Auflage 1909 einfügte(s.StA III, Einleitung zu Einführung des Narzissmus, S.39)StA V,S.56

[2] so im engl.Original,Anm.d.Ü.

[3] The „self“is never in the “I”, active position.

[4] Anm.Ü: so im engl.Original statt der bei Freud verwendeten Schreibweise in einem Wort

[5] Anm.Ü: so im engl.Original statt der bei Freud verwendeten Schreibweise Ideal-Ich

[6] Sigmund Freud, "Mourning and Melancholia," S.E., Vol. XIV, p. 249 (Collected Papers, 4, p. 159) ("thus the shadow of the object fell upon the ego").

[7]  Anm.d.Ü.: thym... Etym.: griech. 1) Wortteil „Thymus". 2) ...thym. Wortteil „Gemüt".,

 thymique: (psychol.)v.a. im Frz. Gebraucht: qui concerne l'humeur,  psychische Stimmungen betreffend oder beschreibend, wird auch in der frz.Semiotik verwendet (Greimas)

[8] Anm.d.Ü.:als Gegensatz zu otherness/altérité

[9] Anm.d.Ü.: siehe StA IX, S.108

[10] Anm.d.Ü.: disappearing(Echo)/over-appearing(Narcissus)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Autor

 

Korrespondenzadresse:  Sergio Benvenuto, Via Dandolo 24, I-00153 Roma

E-mail: JEP@mclink.it

 

 

Sergio Benvenuto, Philosoph und Psychoanalytiker, ist Forscher am National Research Council (CNR) in Rom, Italien. Er ist der Präsident des Institute for Advanced Studies in Psychoanalysis, Italian Section of the Institut des Hautes Etudes en Psychanalyse. Er ist Gründer und jetzt Mitherausgeber des JEP. European Journal of Psychoanalysis (www.psychomedia.it/jep). Er ist Mitarbeiter verschiedener kultureller Zeitschriften wie Telos, Lettre Internationale, (German, French, Spanish, Hungarian and Italian editions), Texte, RISS, Journal for Lacanian Studies, L’évolution psychiatrique.
Er übersetzte ins Italienische Jacques Lacan’s Séminaire XX: Encore. Seine Bücher:  Dicerie e pettegolezzi (Bologna: Il Mulino, 1999); Un cannibale alla nostra mensa (Bari: Dedalo, 2000); Perversioni. Sessualità, etica, psicoanalisi (Turin: Bollati Boringhieri, 2005); German ed. Perversionen. Sexualität, Ethik und Psychoanalyse (Wien: Turia + Kant, 2009);  Mechta Lakana, in Russian (Sankt-Peterburg: "Aleteija", 2006); Accidia. La passione dell’indifferenza (Bologna: Il Mulino, 2008); mit  A. Molino, In Freud’s Tracks (New York: Aronson, 2008) [benvenuto.jep@mclink.it; http://www.istc.cnr.it/createhtlm.php?nbr=94]

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