Fluxury by Sergio Benvenuto

Narzissmus und Melancholie[1] May/22/2023


 


-           RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse, 16. Jahrgang, Heft 50, 2001/I, Seite 23-50.

 

Sergio Benvenuto 

 

Zusammenfassung:

Für Freud ist der Melancholiker ein Narziss. Indem er sich selbst schindet, verfolgt er das, was es an Schwäche in ihm gibt. Wenn Freud vom sadistischen Über-Ich des Melancholikers spricht, versucht er zu zeigen, dass der Depressive unterdrückt, was er als ungenügend empfindet. Der Melancholiker gibt sich nicht dafür her, die Schwächen mit sich herumzutragen. Darin liegt sein Größenwahn, seine euthanasische Eile. Der manisch-depressive Kreislauf entfaltet eine Art Synchronie in der Zeit, eine Art logischer Implikation: Die Manie ist nicht bloß die Kehrseite der Melancholie, sie ist zugleich ihre Regel.

Schlüsselwörter: Depression, Narzissmus, Melancholie, Paranoia

 

Summary:

For Freud the melancholic one is a narcissus. By straining, he is fighting his own weakness. When Freud speaks about the sadistic Superego of the melancholic, he tries to show, that the depressive one suppresses what he regards as his own insufficiency. The melancholic one doesn’t want to have anything to do with his own weakness. That is what is megalomaniac,  his euthanasian hurry. The manic-depressive cycle unfolds a kind of synchronisation, a kind of logical implication: The mania is not only the drawback of the melancholia, it is at the same time their rule.

Keywords: depression, narcissism, melancholia, paranoia

 

I.

Die Psychiatrie und die Psychoanalyse der angloamerikaischen Welt – was angesichts der Hegemonie der angloamerikanischen Kultur auch im medizinischen und psychotherapeutischen Umfeld mittlerweile auf die Behauptung hinausläuft: die Psychiatrie und die Psychoanalyse tout court – scheinen von der Depression und dem Narzissmus zugleich beherrscht und fasziniert zu sein. Weshalb also wird diesen Kategorien ein solches Gewicht beigemessen?

In Italien wurden in den Zwanzigerjahren die meisten Geisteskrankheiten als «alkoholische Demenz»[2] klassifiziert. Es reichte, dass der Kranke täglich einen halben Liter Wein trank oder dass der Wein irgendeinem Onkel oder Grossvater von ihm besonders zusagte, und die Ursache des Leidens war auch schon gefunden: der Alkohol. In den folgenden Jahren waren dann alle Geisteskranken je nachdem latente oder akut leidende Epileptiker. Noch ein bisschen später änderte sich die Mode wieder, und für die Psychopathologie der Achtzigerjahren waren alle «depressiv». Und diejenigen, die einst als Phobiker oder Hysteriker betrachtet wurden, leiden heute ganz einfach an «Panikanfällen».

 

Genau diese Vorliebe für den Begriff der Depression gegenüber demjenigen der Melancholie (auch die verschiedenen Arten von Melancholie werden, ganz im Sinne Kraepelins, «psychotische Depressionen» genannt) ist ein Symptom der heute herrschenden psychiatrischen Kultur. Und in der Tat, der Begriff «Depression» hat etwas zugleich Affektives und Mechanisches an sich, als ginge es bei ihm bloß um eine Physik der reinen Affekte, die mit dem Gebiet der Kultur, der Moral oder des Denkens nichts zu tun hat. Der von der DSM (diagnostic statistical manual for mental diseases) dominierten Psychiatrie scheint die Stimmung, welche gewisse Diskurse begleitet, wichtiger zu sein als das, was in ebendiesen Diskursen zum Ausdruck kommt; die Stimmung scheint greifbarer und «berechenbarer» als alle depressiven Vorstellungen, die gleichsam im Pfuhl des Lebens schwimmen. Man geht davon aus, dass Trübsal oder Heiterkeit, so unaussprechlich sie auch sein mögen, dennoch einfacher messbar sind als alle heiteren oder traurigen Vorstellungen. Die «Melancholie» ist im übrigen ein gelehrter Gräzismus, der nach humanistischen Studien riecht. Dies verdriesst die modernen Gesundheitstechnokraten der guten Laune, die gewöhnlich die klassischen Gymnasien nicht besucht haben, noch zusätzlich.

In dieser modernen Leidenschaft für die Depression und den Narzissmus überschneiden sich zwei Begriffe, die schon für Freud eng miteinander verknüpft waren. Unter Melancholie versteht Freud die zweideutige Trauer des Narziss. Um diese Theorie der Melancholie zu begreifen, ist es deshalb nötig, kurz dabei zu verweilen, was Freud unter Narzissmus versteht – gerade weil es ihm nicht immer gelingt, dies genau zu klären. Es liegt mir fern, Freuds Leistung zu schmälern: grosse Theoretiker wie Freud sagen stets viel mehr, als sie zu sagen beabsichtigen. Hinzu kommt, dass jedes Zeitalter – einschliesslich des unsrigen – die früheren Autoren wieder liest und Fragen an sie richtet, die ihnen gewiss nicht, jedenfalls nicht explizit, vorschwebten. Freud schrieb zu einer Zeit, in der man sich nicht so sehr um den Narzissmus und die Melancholie bekümmerte, wie wir das heute tun. Binswanger hatte damals seine berühmte Studie zur Melancholie und Manie noch nicht veröffentlicht (Binswanger 1960). Das Zeitalter des Narzissmus von Christopher Lasch (Lasch 1995) war noch nicht geschrieben, die Self Psychology von Kohut war noch nicht geboren, und der Übergang vom viktorianischen Puritanismus zum neuheidnischen Hedonismus von heute war ebensowenig vollzogen. Gerade aus diesem Grund vermag uns die «klassische» Theorie Freuds zwangsläufig Dinge zu sagen, die sie seinen Zeitgenossen nicht verraten konnte.

 

II.

Wenn man heute an den Freudschen Narzissmus denkt, fallen einem sogleich die Spiegel und die Reflexion ein. Spielt sich aber der poetische Mythos von Narziss nicht genau in der zweifach tödlichen – einer akustischen und einer visuellen – Reflexion zwischen dem Widerhallen von Echo und dem zitternden Bildnis im Wasser ab? Die Beiträge, die nach Freud insbesondere von Lacan (É 1966/S I 1973) und Winnicott (Winicott 1960) stammen, haben den visuellen und spiegelhaften Aspekt des Narzissmus zusätzlich hervorgehoben.

Wo aber Freud das Bedürfnis verspürt, diesen Begriff einzuführen, zentriert er ihn in Wirklichkeit um die Gestalt des Hindernisses. Der Narzissmus ist zuvörderst ein Hindernis – ein Hindernis insbesondere der analytischen Behandlung. Seit Zur Einführung des Narzissmus (Freud 1914c)  behauptet Freud, dass der Begriff auf die ganze Dimension der Subjektivität, sofern sie wenigstens latent in jedem menschlichen Wesen vorhanden ist, angewendet werden muss. Und er fügt hinzu, dass «man auf die nämliche Vermutung von den Schwierigkeiten der psychoanalytischen Arbeit an Neurotikern her kam, denn es schien, als ob ein solches narzisstisches Verhalten derselben eine der Grenzen ihrer Beeinflussbarkeit herstellte» (Freud 1914c, 139).

Allzu oft vergisst man das Warenzeichen des Freudschen Narzissmus: den Widerstand, die Tatsache, dass sich der Analysant dem «Einfluss» des Analytikers widersetzt, wie Freud sagt. Vielleicht wäre es freilich besser zu sagen: Man verdrängt dies allzu oft, weil hier der Erfinder der Psychoanalyse in unmissverständlichen Worten und ohne Schamhaftigkeit zu sagen wagt, dass der Analytiker beeinflusst! Eine gewisse psychoanalytische Heuchelei, die heutzutage gang und gäbe ist, verabscheut den «Einfluss» wie eine doppelte Todsünde: eine Todsünde gegen die Freiheit des Patienten und gegen die wissenschaftliche Objektivität.[3]

Allein, der Narzissmus ist in einem zugleich radikaleren und zweideutigeren Sinn

 

ein Widerstand, in dem Masse nämlich, in dem er sich auf die Reflexion/die Widerspiegelung gründet. In der Tat, der Umstand, dass sich Narziss in sein eigenes Spiegelbild verliebt, bedeutet für Freud, dass der Trieb nicht zu einem Objekt als etwas «Anderem» gelangt, sondern auf das Bild des Subjektes als auf sein Objekt trifft. Und wie kann das Subjekt die imaginäre Widerspiegelung seiner selbst mit dem Objekt als einem anderen verwechseln? Ganz einfach deshalb, weil es eine reflektierende Oberfläche gibt, wie etwa den Spiegel oder das Wasser. Eine Oberfläche, die, indem sie einen schützenden Schirm bildet, den Trieb – der eigentlich auf das Objekt, auf das andere gerichtet ist – nicht passieren lässt und ihn im Subjekt selbst gefangen hält.

Stellen wir uns einen undurchsichtigen Schirm vor, der einen aus verschiedenen Farben zusammengesetzten Lichtstrahl durchschneidet, der sich also zwischen die Lichtquelle und das Objekt, auf den dieser Strahl gerichtet ist, schiebt. Der Schirm wird das Objekt im Schatten lassen, aber er wird wie die Kinoleinwand die Quelle, das heisst die verschiedenen Farben reflektieren, die ich, der ich hinter der Lichtquelle sitze, auf diese Weise sehen kann. Dank dem Schirm bleibt das Objekt im Dunkeln – aber das Subjekt des Lichts «erkennt sich selbst», dank dem Bild, das ihm der Schirm zurückwirft.

Der Narzissmus ist also nicht mit der Liebe zum eigenen Spiegelbild identisch, er bezeichnet vielmehr die Rückkehr des eigenen Bildes zu sich selbst. Aber wenn etwas von der Subjektivität zurückkehrt, so ist die Subjektivität erkennbar; der Mensch kann nur dann etwas von sich erkennen, wenn seine Intentionalität oder Triebgerichtetheit sich nicht in den Dingen verliert, wenn ein Teil von ihr als Schauplatz seiner selbst zu ihm zurückkehrt. Daraus lässt sich etwas Wichtiges folgern: Der Narzissmus ist die Grundlage der Psychologie, wenn wir unter Psychologie die Wissenschaft vom Subjekt – die Wissenschaft, dessen Objekt das Subjekt ist – verstehen.

Mit der Einführung des Narzissmus wollte uns Freud im Wesentlichen sagen: es ist bloß eine narzisstische Erkenntnis des Subjekts möglich, das heisst bloß eine Erkenntnis des Subjekt-Bildes, des Subjektes als eines bloßen Bildes für mich.

Der Narzissmus ist also so etwas wie eine grammatikalische Flexion des Triebes. Wenn der Freudsche Trieb stricto sensu transitiv ist, so steht der Narzissmus für die Reflexivität des Triebes – eines jeden Triebes. Jeder Trieb, dem es widerfährt, sich zu reflektieren, ist narzisstisch. In diesem Sinne besitzt jede Neurose eine narzisstische Seite – wir können sogar sagen, dass die narzisstische Liebe den sekundären Gewinn jedweder Neurose darstellt. Kurz und gut, der Narzissmus ist intransitiv.[4]

Die Paranoia, die Freud mit dem Narzissmus in Beziehung bringt, bildet also eine Art «deponente» Seite dieser Intransivität. Die sogenannten Semideponens bezeichnen nämlich im Lateinischen diejenigen Verben, die eine passive Form und eine intransitive Bedeutung besitzen: «videor» hat die Form «Ich werde gesehen» und bedeutet «Ich scheine». In der paranoischen Leidenschaft erscheint sich der Patient (wenn man mir diesen Ausdruck erlaubt) als passives Objekt einer Handlung, die – so suggeriert Freud – keine transitive Aktion, sondern eine intransitive Reflexion ist. Der Verfolgte «sieht sich» verfolgt von einem Grossen: die Erotomane «sieht sich» geliebt von einem Grossen; der Eifersüchtige «sieht sich» gross verraten; der Megalomane «sieht sich» als ein Grosser.

Die melancholische Intransitivität ist hingegen nicht «deponent», sie ist kein einfaches Sprechen; vielmehr ist sie mit der Deklination eines Paradigmas zu vergleichen. Die Melancholie ist also eine Sprache, die nicht spricht, die im Anblick der eigenen Struktur gefangen bleibt. In der Tat, die depressive Klagerei ist paradigmatisch – so paradigmatisch, dass sie seit der Antike die Vorstellung einer wesenhaften Ähnlichkeit zwischen Melancholie und Philosophie hervorbrachte. Der Melancholiker produziert wie der Philosoph paradigmatische Aussagen der folgenden Art: «Das Leben hat keinen Sinn», oder etwa «Ich bin der unwürdigste Mensch dieser Welt». Die Melancholie ist die traurige Wissenschaft vom Subjekt (allein, kann es eine Wissenschaft geben, die nicht traurig ist?) – von einem Subjekt, das in seiner Deklination entfaltet/erklärt und erschöpfend behandelt wird.

 

Melancholie und Psychologie unterhalten deshalb eine gleichsam komplizenhafte Beziehung. Und zwar deshalb, weil die Wissenschaft von der Seele (die Psycho-logie), wie jede andere Wissenschaft auch, gewiss noch Interpretation ist – wobei ich unter «Interpretation» die lebendige Sinngebung verstehe, das Auffinden eines Wertes in den Ereignissen. Die Interpretation der Wissenschaft – einer jeden Wissenschaft – aber verlangt von sich, abgeschlossen zu sein.

Jede Wissenschaft verkündet, dass die Natur nicht frei (was wäre es sonst für eine Natur?), sondern determiniert ist. Eine Theorie ist dann wissenschaftlich, wenn sie davon ausgeht, dass die Natur notwendig den Gesetzen folgt, die von der Theorie beschrieben werden. Die Wissenschaft interpretiert also nicht wirklich: sie erklärt die Natur als etwas, das sich stets einem Gesetz zu beugen hat.

In jener Fehlinterpretation, die die Melancholie ist, rächt sich das interpretierende Leben des Menschen dadurch, dass es sich selbst in Natur verwandelt, in das also, was gezwungen ist, dem Gesetz zu folgen. Der Melancholiker wiederholt immer dieselbe Konklusion, er macht nichts anderes, als stets und hoffnungslos zum selben Punkt zurückzukehren. Wie die Planeten, die ihre Umlaufbahn auf ewig wiederholen, bringt der Melancholiker seine Nachbarn dadurch zur Verzweiflung, dass er stets zur selben «objektiven» und also immer pessimistischen Interpretation zurückkehrt. Der Melancholiker interpretiert nicht deshalb depressiv, weil er unglücklich ist – wie etwa eine überstürzte psychiatrische Phänomenologie annimmt –, sondern weil seine Interpretation unglücklich ist. Jede unglückliche Interpretation ist melancholisch. Das wissen die Kleinianer sehr gut, deren Ethik darin besteht, den Subjekten einen Zugang zur depressiven Stellung zu verschaffen: Und ist nicht genau diese Depression die Aura, die von ihren – «unglücklichen» – Interpretationen gezeichnet wird? In der Tat liegt der Kern der Kleinschen Interpretation darin, dem Subjekt zu sagen: «Im Grunde bist du bloß ein paranoisches Baby! Deshalb hast du auch dem Schaden zugefügt, was dir am liebsten war! Das sollst du bereuen!» Die Wiederherstellungsversuche sind im Falle der Depression die Antwort auf eine schwere moralische Orthopädie, auf die Orthopädie der Reue, mit dem ganzen Schleier der Traurigkeit, der sie umgibt.[5]

Es ist vielmehr so, dass der Melancholiker das eigene Leben nicht interpretiert, sondern – wie der Wissenschaftler – erklärt. Oder besser: Seine Interpretation reduziert sich auf eine Erklärung. Er gibt sich allein mit den Tatsachen zufrieden – das heisst mit der Vergangenheit. Der Depressive klagt die Sinnlosigkeit seines Lebens an, weil es sich um ein Leben handelt, das keine Zukunft hat, das er betrachtet, als wäre es bereits vergangen und also wertlos. Die Welt der Tatsachen ist die Welt der vergangenen Dinge, der Wiederholungen der Planeten, die keinem Projekt folgen (auch wenn viele vermöge der Horoskope ihr Schicksal und ihre Wünsche in sie «projizieren»). Die Welt des Sinnes ist die Welt der Zukunft, dessen also, was noch zu tun ist, die Welt der Neuheit, des Lebens.

Die Vorstellung, die Melancholie sei eine Form der Objektivität, kann als eine Forcierung erscheinen, und sie wird bestimmt einige wohlgesinnte Analytiker vor den Kopf stossen. Und dennoch gehen einige Untersuchungen der kognitiven Psychologie genau in diese Richtung: Die «optimistischen» Personen, denen ein grösserer Grad von Selbstachtung eigen ist, verzerren die Realität auf eine gewisse Weise, während die depressiven Subjekte mit wenig Selbstachtung eine viel präzisere Wahrnehmung der Realität und ihrer Ursachen zu haben scheinen.[6] Wenn diese experimentellen Daten wahr wären, wäre damit bewiesen, dass es in der Praxis hilft, sich über sich selbst zu betrügen: Ein gewisser Spielraum an Selbstüberschätzung und eine gewisse Blindheit gegenüber der harten Realität stellen eine Bedingung dafür dar, wirksam zu sein und Einfluss auf die Realität auszuüben. Es ist notwendig, die Realität ein wenig zu verkennen und an einem Überschuss an Subjektivität zu leiden, um gut zu leben.

Allein warum klebt der Melancholiker so sehr an der Vergangenheit, das heisst also: an den Tatsachen?

 

III.

 

Die Metaphorik des Sehens und der Reflexion beherrscht die Freudsche Theorie der Melancholie noch mehr als die der Paranoia. Die Auffassung, Paranoia und Melancholie liessen sich als die beiden Seiten derselben Medaille beschreiben, ist weit verbreitet; als wäre es möglich, den Handschuh der Melancholie umzustülpen, um die Kehr- oder Rückseite der Paranoia zu erhalten: «Die Melancholie ist eine innere Paranoia». Ich möchte dazu anregen, dieses Spiel von Vor- und Rückseite als eine andere Art und Weise zu interpretieren, in der die Psychoanalyse die «Räumlichkeit» des Narzissmus gleichsam visuell zu begreifen versucht.

«Der Schatten des Objekts fiel auf Das Ich»[7]: Dieser schöne Satz Freuds wird immer wieder zitiert, wobei nur wenige zu erklären suchen, was er wirklich besagt. Er übt jedenfalls eine grosse Anziehungskraft auf uns aus – und vielleicht zieht er uns deshalb in seinen Bann, weil wir ihn nicht gänzlich verstehen. Es handelt sich bei ihm um eine Erläuterung, die des Schattens nicht entbehrt. Reflektieren, einen Schatten werfen, ein visuelles Hindernis bilden, projizieren und deflektieren: alle diese Begriffe bedeuten einen Verrat an einer klaren Phänomenologie des Sehens.

Als Freud sagte, dass das Objekt in der Melancholie einen Schatten auf das Ich fallen lässt, meinte er mit Objekt das verlorene bzw. gehasste Objekt. Aber sind nun der Mangel und das Gehaßtwerden nicht zwei ununterscheidbare Eigenschaften, die jedem Objekt eigen sind? Das Objekt, das einen Schatten wirft, ist das Hindernis, auf das der Liebestrieb dank dem Mangel und der Abwesenheit trifft. Es lässt sich hier eine Dialektik – wie sie in den Freudschen Begriffen stets am Werke ist – zwischen Spiegel und Schatten skizzieren.

 

 

Between the idea

And the reality

Between the motion

And the act

 

Between the desire

And the spasm

Between the potency

And the existence

Between the essence

And the descent

Falls the shadow (Elliot)[8] 

 

Worum handelt es sich bei diesem Schatten, der zwischen die potency und die existence fällt, bei dieser frustrierenden Abart eines Willens, der sich nicht in eine Handlung übersetzt, bei diesem Willen zur Macht, dem es nicht gelingt, die Macht des Willens zu offenbaren?

Seit Freud haben wir den Verdacht, dass dieser fallende Schatten mit dem Narzissmus identisch ist – und dass der melancholische Schatten, den das Objekt über das Ich wirft, den Schattenwurf  bzw. den Widerstand des Narzissmus als eines solchen offenbart.

 

Um ein Beispiel zu nennen: Woran liegt es, dass viele Helden von Tschechow – wie überhaupt von russischen Autoren – faul, passiv, gelangweilt, träge und blasés sind? Heute können wir mit Überzeugung antworten: es liegt an ihrem Narzissmus. Das heisst an der hohen Idee, die sie von sich haben. Was Oblomov zu einem Oblomov[9] macht – das heisst zu jemandem, der unfähig ist, irgendetwas zustande zu bringen –, ist genau der Umstand, dass er von sich selbst so sehr fasziniert ist, dass er sich für eine ewige und ruhmvolle Potentialität hält. Die Faulheit ist das unverwechselbare Kennzeichen des Narzissmus, weshalb der Narziss sein Leben im selben Augenblick, in dem er es lebt, auch stets mit Nostalgie betrachtet. Im Gegensatz zu Pablo Neruda fürchtet er, dass er nie von sich bekennen können wird, dass er gelebt hat. Weil die einzige Art und Weise, die wir haben, um ganz zu leben – ohne nostalgisch zu sein, ohne Schmerzen über das nostos, über die Rückkehr zum Spiegel zu empfinden –, darin besteht, uns dem Leben blindlings hinzugeben, ohne darüber nachzudenken, was wir gerade tun. Der Narziss ist derjenige, der sich für die Welt zu gut ist, weil er zu viel voraus-sieht: Er hält die Liebe in sich zurück, er dünnt sie weder in der Handlung noch in der Leidenschaft aus. Der Narzissmus bezeichnet die Liebe, die das Ich nicht zu durchqueren vermag, die sich vielmehr bricht, sich immer wieder am Hindernis bricht. Es handelt sich weniger um Geiz als um den Widerstand gegen den Trieb, sich zu transzendieren. Dieser Trieb, sich zu transzendieren, dieses Sich-Entwerfen kennzeichnet sowohl nach Freud als auch nach Heidegger jedes vollständige menschliche Wesen. So wird verständlich, woher die Unvollständigkeit des Narziss rührt.

Allein, worin besteht dieses Hindernis, das letzten Endes jeder Spiegel ist? Welches ist die Beschaffenheit dieses im Grunde inkonsistenten, wenn auch insistenten und beharrlichen Hindernisses?

Im Ovidschen Mythos von Narziss ist Echo das Hindernis, und zwar genau insofern, als die – allzu furchtsame – Nymphe gar nicht existiert: Sie selbst ist der Reflex – und nicht etwa das Objekt – eines Sprechens von jemand anderem. Echos Liebe kann nicht erwidert werden, weil sie selbst eine Erwiderung ist. Das Hindernis liegt im Fehlen des Objekts, welches Fehlen irgendwann zu einer glatten und so sehr geglätteten Oberfläche werden kann, dass sie zuletzt mit der kristallinen Reinheit der Leere zusammenfällt. Diese Leere, die das Fehlen des Objekts anzeigt, nimmt die beunruhigenden, paranoiden Umrisse eines Spiegels an. Jenes Loch, welches das Freudsche Objekt darstellt und das die Begegnung mit dem Trieb verfehlt hat, wird durch einen reflektierenden Spiegel ausgefüllt. Die Abwesenheit unseres Geliebten lässt uns darüber reflektieren – lässt uns solange darüber reflektieren, macht uns so sehr nachdenklich, bis wir uns in diese unsere Reflexion verlieben.

Bis wir uns zuletzt fragen: Wenn die Begegnung mit dem reflektierenden Spiegel notwendig in jeder Erfahrung einer Enttäuschung, einer verfehlten Begegnung geschieht, worin besteht dann die Eigentümlichkeit der narzisstischen Spiegelhaftigkeit. Sie besteht im folgenden: Der Freudsche Narzissmus ist nicht etwa – wie man aus Faulheit gemeinhin zu denken geneigt ist – die Liebe zum eigenen Spiegelbild, das Verliebtsein ins Idealich, sondern die Liebe zum Spiegel als solchem. Was den Narziss von dem unterscheidet, was man an Narzisstischem in jedem Menschen wiederfindet, ist diese Liebe zur Reflexivität, das heisst in anderen Worten: dieser Verzicht auf die Transitivität. Dieser Verzicht kann zwei Wege einschlagen: A) Entweder die Aufgabe eines Prinzips – wie es bei Freud implizit vorhanden ist –, das sich dem Lustprinzip widersetzt: das Prinzip der Transzendenz. Dieses Prinzip widersetzt sich dem Lustprinzip auf radikale Weise, das heisst radikaler als etwa das Realitätsprinzip.  B) Oder die falsche paranoische Transzendenz, die im eigenen Spiegelbild über sich hinaus zu gelangen sucht, eine Transzendenz, die auf sich zurückfällt.

 

IV.

 

Vor dem Hintergrund dieser Dialektik zwischen Spiegel und Schatten ist es uns also möglich, eine strukturelle Differenz zwischen der Paranoia und ihrer melancholischen Kehrseite zu fassen. Das paranoische Delirium zeichnet sich dadurch aus, dass ein anderer auf mich, das Subjekt, einen Schatten wirft: mein Verfolger, meine (geglaubte) Geliebte, der ich dafür meine Liebe erwidere, der Nebenbuhler, mit dem sie mich betrügt, die Menschenmasse, die meine Grösse nicht erkennt. Es handelt sich selten um klar bestimmte Personen in carne ed ossa, in Fleisch und Blut, sondern vielmehr um Gestalten, die einen «Verfolgungsschatten» bzw. einen libidinösen Schatten – oder beides – auf mein Leben fallen lassen. Freud jedoch gibt uns zu verstehen, dass diese anderen, deren Schatten das paranoische Ich bedrohlich überragen, nichts anderes sind als seine Spiegelbilder – Reflexe des Ichs, die das Ich nicht als solche erkennt. In der Paranoia ist es der Spiegel des Ichs, der einen Schatten wirft.

In der Melancholie hingegen ist es der Schatten, der als Spiegel fungiert. Ein Bild von Böcklin, das den Namen Melancholie trägt (Basler Kunstmuseum), stellt die Melancholie als eine Frau ganz in schwarz dar, vor der sich ein Spiegel befindet, wobei dieser Spiegel von einem schwarzen Tuch bedeckt ist. Wer nun behauptet, dass der Melancholiker alles schwarz sieht, sagt freilich nur die halbe Wahrheit: Dieses Schwarz, das er sieht, ist sein Bild, jenes Objekt also, das letzten Endes eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf ihn ausübt. Einem Blinden ähnlich, erklärt er jenes schwarze Loch, das er sieht, zu seiner Wahrheit.

Während der Paranoiker nicht SICH im Spiegel, in dem der andere (oder besser: der Schatten des anderen) sich bewegt, erkennt – vermag der Melancholiker den Anderen in SICH nicht zu erkennen. Deshalb behauptet Freud, dass der Melancholiker, indem er sich über sich selbst beklagt, den Anderen anklagt. Der Melancholiker weiss nicht, dass das SICH, das ihm im Wege steht, der andere ist.... Während also der Paranoiker den Anderen zu sehen glaubt und in Wirklichkeit sich selber sieht, glaubt der Depressive sich zu sehen, wobei er bloß den anderen sieht.

In diesem Sinne ist der paranoische Narzissmus ein solcher, dem es an Introspektion mangelt. Da sich die Paranoia als eine scheinbar überquellende Transitivität zu erkennen gibt, kommt der Paranoiker nie zur Reflexion; das von Hass oder Liebe erfüllte Handeln des anderen macht, dass er die Leidenschaften gleichsam passiv erleidet. Der Paranoiker ist ein an psychischer Phokomelie Leidender, dem das Organ der Introspektion fehlt – ein Organ, das sich in der Melancholie zu monströsen Formen auswächst. Die Melancholie wird in ihrer Bitterkeit durch den quälenden Hang zur Introspektion nur noch verstärkt: die Introspektion als Hypochondrie der Seele. Der Melancholiker betrachtet die eigene Seele als krankes Organ, er klagt sich selbst als jemand an, der von einer kranken Seele heimgesucht wurde.

 

V.

Von wem nun wird der Paranoiker verfolgt? Freud lässt keinen Zweifel daran, dass er vom Idealich, das er nichtsdestotrotz liebt, verfolgt wird. In dieser rächenden Rückkehr des Ideals besteht die gewaltsame Liebe des Paranoikers.

Aber wird nicht auch der Melancholiker vom eigenen Ideal verfolgt? Allein wer zu verstehen sucht, in welchem Sinn Melancholie und Paranoia zwei gänzlich verschiedene Formen der Verfolgung sind – ungeachtet der Versuchung, sie mit sehr ähnlichen Worten zu beschreiben –, gelingt es, bis an den Grund der Freudschen Narzissmus-Theorie vorzudringen.

Das melancholische Subjekt empfindet Neid gegenüber dem eigenen Ideal. Dieses eigene und zugleich uneigentliche Ideal wirft einen Schatten über es. ... Und genau deshalb, weil es vom eigenen Ideal in den Schatten gestellt wird, nimmt es sich schliesslich als Hindernis und Schirm des eigenen Ideals wahr. Der Melancholiker ist das störende Element der eigenen Selbst-Idylle, derjenige also, der SICH daran hindert, sich selbst zu verwirklichen.

Das erklärt die Ausdrucksweise der unaufhörlichen Klagen des Melancholikers. Freud hat einen seiner genialen Einfälle, wo er sich zu fragen wagt: Weshalb hört der Melancholiker nicht auf damit, sich selbst zu erniedrigen, weshalb beklagt er sich ständig mit einer solchen Aufdringlichkeit? Ganz einfach deshalb, weil er diese Selbstanklagen geniesst.[10] In der Klage verbirgt sich die ganze Erotik des Melancholikers.



Wobei Freud hinzufügt: Die Klagen des Melancholikers sind in Wirklichkeit Anklagen. Das wahre Objekt, über das sich der Melancholiker beklagt, ist nicht er selbst, sondern der Andere. Ihn klagt er an. Die Anklage ist nicht einfach ein Sich-Beklagen, sondern ein aktives Verfolgen des Anderen. Während der Melancholiker sich zu verfolgen scheint, verfolgt er in Wirklichkeit den Anderen. Die Freundin eines Depressiven, der Stunden damit verbrachte, in totaler Niedergeschlagenheit seine Schwächen aufzuzählen, beschrieb ihre Reaktion auf die Selbstgeisselungen ihres Geliebten folgendermassen: «Ich fühle mich verletzt, als hätte ihn jemand vor aller Augen schlecht gemacht». Indem er sich vor dem anderen, der ihn liebt, schlecht macht, verletzt er ihn: Er bestraft den anderen, der ihn liebt, indem er dessen geliebtes Objekt erniedrigt. Selbst in seinem Narzissmus verletzt, versucht der Depressive denjenigen, der ihn liebt, ebenfalls zu verletzen.

Der Paranoiker neigt dazu, den anderen anzuklagen – indem er etwa konkret zu einem Polizeikommissariat geht –, wobei Freud in diesem anderen den Reflex des Paranoikers erkennt. Der Melancholiker hingegen klagt sich selbst an (wobei er sich an keine juridische Instanz wendet, weil er sich selbst wie sein eigener Polizist aufführt), und zwar deshalb, weil er durch diese Selbstanklage den anderen, dessen Reflex das Subjekt darstellt, anzuklagen vermag.

In diesem psychopathologischen Through the Looking Glass reflektiert sich also die analytische Theorie in sich selbst und ahmt so in ihrem Sich-Entfalten die Reflexion des eigenen Objekts nach. Freuds eigene Theorie besitzt oft melancholische Züge, weist aber zuweilen auch paranoische Formen auf.

Welcher Trieb liegt nun den melancholischen Klagen bzw. Anklagen zugrunde? Für Freud handelt es sich um einen Analtrieb.[11] Kurz und gut, wir haben es mit einem abführenden Trieb zu tun, wobei das Exkrement, das abgeführt werden soll, nichts anderes als das eigene Selbst ist. Genau so, wie man etwa in der Umgangssprache sagt: sentirsi una merda, melancholisch zu sein bedeutet, sich wie ein Stück Scheisse zu fühlen. Ein Stück Scheisse, das – wie jede Scheisse, die einen solchen Namen verdient – ausgestossen werden soll.

Allein, warum ist das Ich in den strengen Augen des eigenen Ideals zu diesem Kot geworden? Weshalb behindert das Ich auf die verschiedensten Weisen den Entwurf bzw. die Projektion des Ideals? Und worin besteht das Ideal des Ichideals? Für Freud ist die Sache klar: Das Ideal des Ideals zeigt sich im Verlangen, so viel wie möglich zu geniessen, bis zur Erschöpfung. Dieses Stück Scheisse, welches das Ich ist, lässt das Ideal – das im eigenen ruhmreichen Versuch, zu geniessen, vom Ich behindert  wird – ein Stück Scheisse bleiben. Das Ich aus dem Wege zu räumen, es zu unterdrücken, dies wird also zu dem, was dem Subjekt an Geniessen übrig bleibt, jenem Subjekt, das sich vollkommen mit dem eigenen Ideal und dessen hohen Erwartungen identifiziert.

 

VI.

Und wie steht es mit dem Schuldgefühl, mit jenem Geruch, den alle Melancholiker so sehr verströmen? Weshalb wird die schlimme depressive Selbst-Abfuhr von Gewissensbissen begleitet?

Wie so oft verfügen auch hier die lateinischen Sprachen über die Quelle einer hilfreichen Zweideutigkeit (co-scienza), die das Deutsche und das Englische nicht besitzen. «Coscienza» bedeutet sowohl «Bewusstsein» als auch «Gewissen», das heisst moralisches Bewusstsein; es bedeutet sowohl «conscience» als auch «consciousness». Im Gegensatz zur deutschen oder englischen Sprachen erlaubt es uns das Italienische zu verstehen, weshalb das Freudsche Über-Ich wirklich ein Bewusstsein ist: zugleich reflexive Instanz des Spiegelbildes und beissendes moralisches Agens.

 

Für Freud ist das Über-Ich nichts anderes als der Andere, der mich anblickt. Zu meiner Zeit versuchte der Pfarrer uns Knaben im Kollegium von der Masturbation abzuhalten, indem er uns immer wieder einflösste: «Gott beobachtet dich!» Gott hatte es nicht nötig, mir etwas mitzuteilen; es reichte vollkommen, dass ich seines Blickes gewahr wurde. Das Über-Ich braucht mir nichts vorzuwerfen, zu befehlen, zu verbieten, es donnert und quält mich nicht, wenn es mich heimsucht: es genügt, wenn es mich streng und lieblos anblickt. (Der Begriff «severo», «streng» stammt in der Tat aus dem altsächsischen «sed waer», das «ohne Freunde» bedeutet: «streng» zu sein bedeutet, «unfreundschaftlich», «lieblos» zu sein.) Das Über-Ich ist der Andere, der mir als Spiegel und gleichsam als Bewusstsein fungiert, und zwar genau insofern, als jedes Bewusstsein einen Spiegel darstellt. Was bedeutet «ich bin mir bewusst zu schreiben» anderes als die Tatsache, dass das Schreiben sich in mir spiegelt? Es ist gleichbedeutend mit der Behauptung: «Ich bin nicht nur das oder der Schreibende, sondern auch der Spiegel dessen, der schreibt».

Heidegger beschrieb das Dasein des Menschen als In-der-Welt-sein. Der Mensch lässt sich nicht allein auf sein Verhalten reduzieren, weil wir davon ausgehen, dass er ein Bewusstsein hat, das heisst einen Spiegel, den er für sich selbst ist – jenen Spiegel, dank dem er die Welt hat und dank dem die Welt zugleich ihn hat.

Dieser Spiegel, der das Bewusstsein ist, kann freilich nicht mein Bewusstsein, sondern allein das des Anderen sein, und ich kann zum Objekt dieses Bewusstseins des Anderen werden, zu seiner «Welt». Das lässt sich schön bei den sogenannten narzisstischen Persönlichkeiten feststellen, die zu leben scheinen, bloß um dem Anderen ein Spektakel darzubieten, wie ein Schauspieler auf der Bühne. Wie der Schmierenkommödiant, der spielt, um sich selbst in den Augen der Zuschauer zu bewundern, so können einige Subjekte nur leben, indem sie den Anderen, für dessen Augen sie sich preisgeben, zur Bewunderung nötigen. Bei der Melancholie ist dieses Schauspiel zum Scheitern verurteilt, wobei das Schauspieler-Subjekt abgesehen vom Zwangsschlaf oder dem Tod über keine Kulissen verfügt, hinter die es sich zurückziehen kann.

Aber das Bewusstsein, dass mich der Andere anblickt, dass der Andere sich meiner bewusst ist, macht es zu einem strengen, lieblosen, sadistischen Verfolgungsbewusstsein. Das Über-Ich ist ein vorwurfsvoller Blick, ein Spiegel, der mich anblickt, der mich zu seinem Schauspiel macht. Das französische «reprocher» kommt vom lateinischen «repropriare» und bedeutet soviel wie «vor die Augen stellen»: das Vorwerfen ist ein Objektivieren, ein Mustern mit den Augen. Es handelt sich um eine strenge Aneigung durch die Augen. Die ursprüngliche Empfindung des überichhaften Vorwurfs gleicht jener, die wir verspüren, wenn wir uns in einer Versammlung fehl am Platze fühlen; wenn uns jemand zu sagen scheint: «Aber schau‘ dich doch mal an, mit wem treibst du’s denn!» (In diesem Sinne können wir auch in der Physik, die die Natur unter unseren Augen ausbreitet, die sie erklärt, indem sie dieselbe ihren Kalkülen unterwirft, die sich voraussieht und beschreibt, so etwas wie einen – von uns – an die Natur gerichteten Vorwurf erkennen; gewiss, die Wissenschaft betrachtet die Natur, ohne über sie zu urteilen, allein sie betrachtet sie mit einem lieblosen und strengen Blick.)

Freud trifft in dieser Phänomenologie des mortifizierenden Blicks/Spiegels des Anderen auf etwas, das der Ordnung des Triebes, des Begehrens, kurz und gut: der Ordnung des Lustprinzips angehört. Freud geht davon aus, dass dieser Blick des Anderen kein neutrales, gleichgültiges, leidenschaftsloses Bewusstsein/Gewissen ist. Der Andere wird ebenso wie das Subjekt vom Lustprinzip umhergetrieben. Dieser Blick des Anderen ist ursprünglich der lüsterne Blick der Eltern, die den Sohn begehren, während sie ihn – schweigend – anblicken. Der Andere ist nach Freud keineswegs gleichgültig gegenüber dem Schauspiel des Subjekts. Das Sohn-Subjekt gibt während der narzisstischen Phase ein Schauspiel von sich, wobei dieses Schauspiel im Anderen nicht selten ein strenges Publikum vorfindet.

 

Für Freud sind die Paranoia und die Melancholie entsprechend der Beweis – wie wir in mathematischer Terminologie sagen könnten: der indirekte Beweis – dafür, dass der Andere geniesst, indem er mich anblickt und mich mortifiziert. Dieses Geniessen ist ungewisser und missverständlicher in der Paranoia: der Andere verfolgt mich, weil er mich hasst oder weil er mich liebt (Erotomanie), weil er die Liebe meines Geliebten erwidert (Eifersuchtswahn) oder weil er mich mit sich identifiziert (Grössenwahnsinn). Bei der Melancholie scheint dieses Geniessen des Anderen jedwede Liebe und Freundschaft auszuschliessen, es ist unverhohlen sadistisch: es findet Genuss darin, mir Vorwürfe zu machen und mich unaufhörlich anzuklagen. In diesem Sinne ist die melancholische Überichhaftigkeit kein bloßer Blick. Freud war von der Schwatzhaftigkeit des Depressiven so beeindruckt, dass er ausrief: «Endlich muss uns auffallen, dass der Melancholiker sich doch nicht ganz so benimmt wie ein normalerweise von Reue und Selbstvorwurf Zerknirschter. Es fehlt das Schämen vor anderen, welches diesen letzteren Zustand vor allen charakterisieren würde. Man könnte am Melancholiker beinahe den gegenteiligen Zug einer aufdringlichen Mitteilsamkeit hervorheben, die an der eigenen Bloßstellung eine Befriedigung findet.»(Freud 1917e, 432-433).  In dieser geschwätzigen Aufdringlichkeit zeigt sich ein Geniessen am Sprechen, das sich gleichsam im anklagenden Furor auflöst. Gewiss, auch in der Melancholie verkörpert sich der erste Vorwurf im Blick – im Bewusstsein, das der Andere von mir hat und das macht, dass ich selbst mir meiner bewusst bin; wie aber Freud präzisiert, handelt es sich um einen sadistisch-analen Blick. Dies bedeutet, dass der Blick jenes Spiegels, welcher der Andere ist, mich «verdinglicht», mich zu seinem Objekt, zu seinem ob-jectum macht. Mit seinen Beschimpfungen wirft mich der Andere fort, er ver-wirft mich wie ein Stück Scheisse. Nachdem er mich mit dem Blick gleichsam angeschissen hat, identifiziert er mich mit dem Exkrement, das entsorgt werden muss. Die Melancholie ist für Freud nichts anderes als eine schmerzliche moralische Verstopfung.

 

VII.

Auf den ersten Blick scheint die Melancholie das Ergebnis einer pessimistischen Interpretation des Lebens zu sein. Für den Optimisten ist das Glas Wasser bekanntlich halb voll, für den Pessimisten halb leer. Viele Melancholie-Therapien sind ebenso naiv wie oberflächlich, weil sie sich im Wesentlichen darauf beschränken, den Depressiven davon zu überzeugen, dass sein Leben nicht bloß halb leer, sondern auch halb voll ist. Dieser Überzeugungsversuch ist gemeinhin zum Scheitern verurteilt, weil die melancholische Interpretation radikaler ist als jede pessimistische Interpretation.

Die melancholische Interpretation ist in der Tat nichts anderes als der angestrengte Versuch, auf jedwede Interpretation zu verzichten: sie weist auf das reale Fehlen des Wassers im Glas hin, auf das Fehlen, das sich in seiner reinen Substanz als Hindernis, das einen Schatten wirft, zu erkennen gibt. Melancholisch zu sein bedeutet, die Realität als deprimierend wahrzunehmen. An einer Depression zu leiden bedeutet, die Realität als bloße Realität auf mortifizierende Weise zu erleben.

Insofern der Melancholiker nicht interpretiert, sondern sich über die Realität beklagt – er beklagt sich über einen Umstand, den wir alle kennen, darüber nämlich, dass das Leben nicht auszuhalten ist –, kann er den Eindruck eines weitsichtig denkenden Menschen erwecken. Es ist kein Zufall, dass eine antike philosophische Tradition Melancholie, Weisheit und Philosophie aufs engste miteinander verknüpft. Dem wissenden Philosophen ist das Glücklichsein verwehrt, er beklagt sich, protestiert – er vermag sich nicht abzulenken durch die eitlen Illusionen des Lebens. Und dennoch glauben wir heute, die wir die Melancholie nicht mehr als Weisheit, sondern als Wahnsinn betrachten, dass die Weisheit des Melancholikers, der die Welt und das Leben anklagt, unnütz und falsch ist. Er ist weise, was die Götter anbelangt, nicht gegenüber den Menschen. Und uns interessieren mittlerweile bloß noch die Menschen. (In diesem Sinn büsst die Melancholie für den Versuch, unsterblich sein zu wollen; an ihr zu leiden bedeutet, zu einem Leben ohne Aussicht auf Täuschung verurteilt zu sein, weil sie den Gesichtspunkt des ent-täuschenden Todes einnimmt. Nur für den, der bereits tot zu sein glaubt, ist das Leben eine Illusion, eine unnütze Leidenschaft.)

Für uns Menschen stellt die Realität ein Hindernis für unsere Triebe dar – wenn wir bedenken, dass die Realität nichts anderes ist als das, was unsere Triebe ihr Ziel verfehlen lässt. Das Unheil besteht darin, dass der Melancholiker keinen Gefallen daran findet, die Hindernisse zu überwinden. Er befindet sich nicht hier auf dieser Welt, in diesem unserem geschäftigen Leben voller Hindernisse, sondern anderswo. Und was ist dieses Anderswo, in das der Melancholiker versunken bzw. in das er verbannt zu sein scheint?

 

Heinz Kohut hat vom grandiose Self gesprochen. Das Anderswo, in dem sich der Melancholiker aufhält – oder eben nicht aufhält – ist der grosse Schauplatz, wo er sein sollte. Er ist depressiv, weil er kein Star ist und nicht glänzt: sein Leben hat nichts Spektakuläres an sich. Wo Freud  Narzissmus und Melancholie mit einem double bind aneinander bindet, entlarvt er zugleich die Eitelkeit und die Gefallsucht, die für die depressive Lebensweise kennzeichnend sind.

Im Gegensatz zu den meisten Menschen findet der Melancholiker keinen Gefallen darin, die Hindernisse immer wieder neu zu überwinden; er sucht nicht nach dem Ruhm in dieser Überwindung. Sein konkretes Leben ist selbst ein unüberwindbares Hindernis, oder besser: sein Tunnel. «Wann und wie werde ich aus diesem Tunnel herausfinden?» Er möchte aus dem Tunnel herausfinden, um des Ruhmes teilhaftig zu werden. Im Fall der Frau (in bezug auf die Melancholie das schwächere Geschlecht) verhält es sich so, dass sie nach dem Ruhm trachtet, endlich geliebt zu werden.

Und in welchem Sinn bildet das Leben in der melancholischen Depression ein Hindernis für den Ruhm?

 

VIII.

Im melancholischen Selbstmord lässt sich eine gewisse Freude, eine Art von äusserster orgiastischer Befreiung erkennen. Ein Wutschrei, der zugleich ein Ausruf des Triumphes ist. Das eigene Leben wurde als unerbittliches Hindernis für das Geniessen wahrgenommen. Indem er sich umbringt, macht der Melancholiker nichts anderes, als sich jenes Hindernisses zu entledigen, zu dem sein Ich für seine Triebe geworden war.

An dieser Stelle ist es vielleicht angebracht, auf ein nosologisches Kriterium hinzuweisen, das erlaubt, zwischen einer neurotischen Depression und der Melancholie zu unterscheiden. Die Therapeuten, die sich mit der Depression befassen, wissen, wie unersättlich der Hunger eines sogenannten «nicht endogenen» Depressiven nach Lust und Glück ist. Dieser nämlich unternimmt im Unterschied zum Melancholiker alles, um nicht mit der eigenen Depression, das heisst: um nicht in die Hände des eigenen Über-Ichs zu arbeiten. Der «nicht endogene» Depressive fügt zuletzt zu jeder seiner unaufhörlichen Anklagen, zu der sein Leben geworden ist, immer wieder die Postille hinzu: «... und dennoch liebe ich das Leben.»

Oder besser: Die Melancholie ist der Preis, den es für die Streberei nach dem Glück zu entrichten gilt. Das Unheil jedoch besteht darin, dass diese Streberei nicht nur denjenigen trifft, der von der Melancholie heimgesucht und reduziert wurde, sondern uns alle, die wir heute als Modernisten oder Postmodernisten leben. Analytiker, Soziologen, Moralisten, Anthropologen, sie alle sprechen unaufhörlich von Narzissmus und von Depression, weil sie spüren, dass sich in diesen Falten der Illusion oder des Schmerzes eine Wahrheit verbirgt, die unsere Kultur bzw. unsere Lebensweise teuer zu stehen kommt. Unser Ideal hat sich verändert. Allein, worin genau besteht denn unser Ideal?

Unser Ideal lässt sich mittlerweile als Freudianisch kennzeichnen. Es gilt auch für den, der keine einzige Zeile von Freud gelesen hat. Freud hatte behauptet, dass der Mensch von einem – zugleich biologischen und ethischen – Gesetz geleitet werde, das er das Lustprinzip nannte. Indem wir es auf ein Gefallensprinzip – auf das Prinzip zu gefallen – reduziert haben, ist es uns gelungen, aus dem Lustprinzip unser modernes narzisstisches Ideal zu machen.

Wir wissen freilich, dass die Lust für den Menschen das darstellt, was an Idealem übrigbleibt, wenn das Leben seinen Sinn verloren hat, wenn es alle Idealität eingebüsst hat. Die Gefallsucht ist das Prinzip des Nihilisten. Und ist nicht unsere Kultur – wenigstens seit Nietzsche – zutiefst nihilistisch? Eine Kultur, in der die grossen Ideale nichts mehr wert sind?

 

Die Phänomenologie der Depression zeigt jedoch, dass die Lust nicht mit dem Sinn gleichgesetzt werden kann, dass sie das Leben nicht zu beleben vermag. Die Melancholie zeigt empirisch, dass die Lust, als Ideal bzw. als Prinzip, zum schädlichsten Hindernis für das Geniessen werden kann, sofern die Lust nicht – wie etwa bei einigen Helden des 18. Jahrhunderts – in ein libertinäres Lebensideal verwandelt wird. Auf diese Weise wird die Lust, wie etwa für den Grafen von Valmont der Liaisons dangereuses, zum neuen Über-Ich der Moderne, das wie alle grossen Ideale Opfer, Tränen und Blut abverlangt. Don Giovanni, dieser dickköpfige Märtyrer der Lust, wird schliesslich, gerade weil er in der Hölle versinkt, in das aufklärerische Paradies der Libertins aufgenommen.

Aber wenn der Begriff der Depression das moderne Denken entzweit, so geschieht dies nur deshalb, weil wir in unserer Lebensweise die Melancholie und den Narzissmus als Reflex und Kehrseite unseres Nihilismus interpretieren: wir stossen auf die Schwierigkeit, aus dem Zerfall jenes Wertes, den das Gefallensprinzip mit sich bringt, den letzten und radikalsten Wert zu machen.

 

IX.

Freuds Theorie ist nicht zuletzt auch deshalb so anziehend, weil sie versucht, zwei so eindrückliche Syndrome wie die Melancholie und die Manie mit zwei ganz normalen und allgemeinverständlichen Erfahrungen in Zusammenhang zu bringen. Freud ordnet die Melancholie der Phänomenologie der Trauer zu – und rückt die manische Erregtheit in die Nähe einer Phänomenologie der Feier. «Freude, Jubel, Triumph», wie Freud zur Manie sagt.

(Freud 1977e, 441). Diese Trauertheorie wurde, wenn auch nicht für alle sichtbar, von der folgenden psychoanalytischen Literatur immer wieder überarbeitet, um nicht zu sagen: auf den Kopf gestellt. Bei Melanie Klein ist es zum Beispiel nicht mehr die Melancholie, die vor dem Hintergrund der Trauer begriffen wird; es verhält sich vielmehr umgekehrt: die Trauer wird vor dem Hintergrund der Melancholie entziffert. In anderen Worten, auch der normalste Mensch wird paranoisch, wenn er einen Verlust erleidet; sollte er die Paranoia überwinden (wenn er einen guten Kleinschen Analytiker oder wenn er einzigartige Fähigkeiten in der psychischen Durcharbeitung hat), wird er melancholisch. Die berühmten Kleinschen Positionen – die schizo-paranoische und die depressive – beschreiben im Wesentlichen den unbewussten Widerhall eines jeden Verlustes. Und dies deshalb, weil nach Klein das Unbewusste die Historisierung einer Trauer darstellt: der Trauer über den Verlust der mütterlichen Brust. Der Erfolg, der dem Begriff der Depression – ein Erfolg, zu dem der Kleinianismus beigetragen hat – beschieden war, hat damit zu tun, dass sich die genaue Unterscheidung zwischen Trauer und Melancholie aufzulösen beginnt, jene Unterscheidung also, die Freud eingeführt hat, um die beiden Begriffe zugleich miteinander in Beziehung zu setzen. Die Depression wird zum Herrenbegriff, weil die strukturelle Unterscheidung zwischen Pathologie und Normalität hinfällig wird.

In anderen postfreudianischen Traditionen, so etwa in der amerikanischen Ego Psychology, ist es nicht mehr die Trauer, das mourning, das als Modell für die Melancholie fungiert; die Trauer verwandelt sich in den despair, in die Verzweiflung, in die hopelessness, in die helplessness. Der Melancholiker wird in den Augen der Amerikaner immer mehr zu jemandem, der am eigenen Überleben und Siegen verzweifelt, oder besser: der daran verzweifelt, stets mehr zu siegen als zu überleben (wenn wir in Betracht ziehen, dass die Menschen in den USA eher selten Hungers sterben und es viel öfter vorkommt, dass sie geschlagen werden). Dies rührt daher, dass in jener Philosophie, welche die amerikanische Untervariante des Freudianismus geprägt hat, das Unbewusste als etwas betrachtet wird, das weniger vom Lustprinzip als von einem «pragmatischeren» Prinzip beherrscht wird: vom Prinzip des Überlebens und der Überlegenheit. Diese Verschiebung von der Trauer zur Verzweiflung geht auf den amerikanischen Pragmatismus zurück, ein Prinzip, nach dem der Mensch vom utilitaristischen Imperativ des Überlebens und der Überlegenheit bestimmt wird.

Dabei darf nicht vergessen werden, dass die Melancholie für Freud Trauer – und nicht etwa exzessive Traurigkeit – bedeutet. Eine gewisse psychiatrische Phänomenologie (zum Beispiel Minkowski) wird die Melancholie der Traurigkeit angleichen. Nicht so Freud. Er versucht die Depression weniger ausgehend von einer gemeinen Traurigkeit als von der Trauer «verständlich» zu machen, weil die Trauer nicht irgendeine beliebige Traurigkeit darstellt: sie ist der Kummer über den Verlust des Objekts. In der Freudschen Theorie ist es unmöglich, die Phänomenologie der Gefühle von der Organisation der Objekte zu trennen.

 

Analog dazu vergleicht Freud den manischen Zustand nicht etwa mit der Heiterkeit, sondern mit der Feier. Auch die Feier steht für eine besondere Art der Heiterkeit: zufrieden zu sein und diese Zufriedenheit mit den anderen zu teilen. Während die Melancholie den Objektmangel beklagt, verherrlicht die Manie – wie etwa in der Feier – den Objektreichtum. Der Wahnsinnige ist kein armer Mensch, der sich für reich hält – er verfällt keiner grössenwahnsinnigen Täuschung –, er ist vielmehr ein armer Schlucker, der sich so aufführt, als wäre er reich; der Wahnsinnige ist derjenige, der beschliesst, frei zu sein, obwohl er dies mit seiner Armut bezahlt. Freud versucht auf diese Weise nicht etwa zwei pathologische auf zwei normale Gefühlszustände zurückzuführen, sondern bezieht sie auf zwei Arten von Beziehungen, die das Subjekt mit der Welt der libidinösen Objekte unterhält.

Auch die Melancholie wird ständig von der Feier in Versuchung geführt, obwohl sie eigentlich die Kehrseite alles Feierlichen darstellt. Und nicht nur deshalb, weil jede Beerdigung auf ihre Weise eine – wenn auch noch so schmerzhafte – Feier ist, sondern weil der klinische Blick in den Depressiven auf eine besondere Neigung zu perversen sexuellen Leistungen, ich würde sogar sagen: zu richtiggehenden sexuellen Feiern trifft. Wir haben vorhin davon gesprochen, dass der Depressive – wenigstens wenn er neurotisch veranlagt ist – zumeist hungrig nach Anti-Depressiva ist: Alkohol, Sex, Spiel, Reisen, Schlafen, Prozac, all das, was die frostige Masse der Depression aufzulockern vermag, wird begierig aufgesucht. Der Depressive befindet sich, ebenso wie der Drogensüchtige, in einer Krise der Lustabstinenz. In der Melancholie ist die – immer schwieriger zu erreichende – Lust das einzige Gegenmittel gegen die Verwesung des Lebens. Und das Leben verfault – es verliert Gestalt und Konsistenz, es löst sich auf –, wenn es keine Lust mehr im Vergnügen findet, wenn sich das Leben auf das bloße Totschlagen der Zeit reduziert. Oder wie die berühmten melancholischen Helden von Tschechow Romanen immer wieder sagen: «Wie doch die Zeit vergeht!»

 

X.

Wir können also sagen: Der Narziss, so wie in Freud begreift, glaubt nicht ans Sprechen. Der Narziss ist entweder von den eitlen Bildern fasziniert und fühlt sich zu ihnen hingezogen oder zieht er sich in die Realität zurück. In beiden Fällen beugt er sich dem Sprechen nicht.

So wird verständlich, wie gross das Hindernis ist, das der Narziss für die psychoanalytische Behandlung, die sich auf den Glauben ans Sprechen gründet, darstellt. Die Analyse setzt das Sprechen in Bewegung, jenes Sprechen, das anerkennt, das die Wahrheit ausspricht, das zu ändern und zu heilen vermag.

Vom Narziss, das heisst von jemandem, der sich für das Sprechen zu gut ist, gleichwohl fasziniert, verweilt der Psychoanalytiker bei der Betrachtung der eigenen Grenzen und der eigenen Niederlage. Denn was ist der Narzissmus anderes als die Verwandlung der eigenen Niederlage in ein Liebesobjekt? Der Psychoanalytiker tröstet sich narzisstischerweise mit dem Glauben, dass er vermöge des Narzissmus die Wahrheit des Ichs, oder besser: des Self entdecken wird. Aber eben: für Freud sind weder das Ich noch das Self das wahre Subjekt – weil das «wahre» Subjekt des Subjektes die Triebe bzw. das Begehren sind.

Husserl sagte, das phänomenologische Programm bestehe im Rückgang «zu den Sachen selbst». Das Freudsche Subjekt geht anders als der Phänomenologe nicht zu den Sachen, sondern «zu seinen Liebesobjekten selbst» zurück – was genau dann geschieht, wenn es sich nicht damit begnügt, aus dem Ich jene Sache «selbst» zu machen.

Heute behaupten alle älteren Analytiker, dass sich die Kunden in den letzten Jahrzehnten verändert hätten: dass alle Patienten narzisstisch geworden seien. Darin lässt sich im übrigen die Eigenart des Protestes aller älteren Menschen erkennen: mala tempora currunt, früher war alles besser. Auch die Neurotiker waren früher besser.

 

Was aber wollen sie uns eigentlich sagen, wenn sie hervorheben, dass alle Patienten narzisstisch geworden sind? Sie wollen uns mitteilen, dass sie in ihrer Tätigkeit auf immer mehr Hindernisse stossen. Oder besser: dass die Patienten – so möchte ich hinzufügen – nicht mehr so naiv wie früher sind; sie geben sich nicht mehr mit jedem Wort, mit jeder Interpretation zufrieden. Oder schlimmer noch: die Worten lassen sie gänzlich kalt. In einer immer kälteren, immer narzisstischeren – und also immer nihilistischeren – Moderne trifft die Psychoanalyse, die auf der Wärme der Übertragung beruht, auf ihr grösstes Hindernis und folglich auf ihre grösste Herausforderung.

Weil der Narziss – der nicht mehr ans Sprechen glaubt – das Ich in seiner Reinheit zur Aufführung bringt. Was ist das Ich anderes als das, was sich von äusseren Bildern so sehr bezaubern lässt, dass es kein Wort mehr aufzunehmen vermag?

Andererseits gibt es jedoch einen Rollenwechsel, ein Spiel der trügerischen Bilder, wie es in narzisstischen Spielchen stets zu geschehen pflegt. Wenn sich die Patienten der Analytiker immer mehr als Narzissten gebärden – kann dies nicht darauf zurückgeführt werden, dass die Analytiker selbst immer narzisstischer werden? Die Symmetrie und die Wechselseitigkeit liegen immerhin im Wesen des Narzissmus. Sind also diese immer narzisstischeren Patienten, über die sich die Analytiker beklagen oder deren sie sich rühmen, nicht vielleicht das Spiegelbild eines wachsenden Narzissmus seitens der Psychoanalytiker?

Kürzlich hat der Philosoph Giulio Giorello in einer Diskussion darauf aufmerksam gemacht, dass Freud noch Träume interpretierte, während sich die heutigen Analytiker vorwiegend mit Traumtexten zu befassen haben. Worauf ich, der ich an dieser Diskussion teilnahm, nicht umhin konnte, folgendes hinzuzufügen: «Nicht nur Traumtexte, sondern Texte, die für mich, den Analytiker, geschrieben wurden.» Der Psychoanalytiker von heute wähnt sich im Mittelpunkt der Welt des Patienten. Wenn der Patient von seiner Kindheit spricht – pardon, vom Text seiner Kindheit –, sagt sich der heutige Analytiker: «Er erzählt das gerade mir, also will er etwas von mir

Allein, was ist diese Art von Bezugswahnsinn des Psychotherapeuten anderes als der Triumph des Narzissmus des Analytikers, eines Analytikers freilich, der weniger als Subjekt denn als Funktion agiert? Mit dem psychoanalytischen Narzissmus verkommen die Träume, die Versprecher, die Symptome und die Witze zu bloßen Texten – und zwar zu Texten, die sich auf mich beziehen, die mich anblicken und mich unablässig befragen.

Und in der Tat, indem Freud den reflektierenden Spiegel und das frustrierende Hindernis aufs engste miteinander verknüpfte, hat er den Narzissmus mit einer Eigentümlichkeit versehen: das reflektierte Bild von mir ist nicht nur mein erhabenstes und rührendstes Liebesobjekt – es ist zugleich mein unerbittlichstes Hindernis. Der Narzissmus ist nichts anderes als dieses hoffnungslose Verliebtsein in den Reflex der Verfolgung: man verfolgt (perseguire) einen Reflex, dessen Fortschreiten (proseguire) uns in der Welt selbst verfolgt (perseguitare). Der Analytiker scheint heutzutage dem Ich des Patienten nachzustellen, wobei er nur auf immer noch mehr vom Narzissmus durchdrungene Hindernisse trifft – als würde der sprintende Achilles der Schildkröte nicht immer näher kommen, sondern sich fortwährend von ihr entfernen. Auf diese Weise büsst der Analytiker für sein wachsendes Unvermögen: sein Wissen ist mittlerweile zu einem Hindernis geworden und wirft einen Schatten auf seine Tätigkeit.

Aber dieses Wissen, das ihn behindert, wird im Analysanten reflektiert, der ihm deshalb immer narzisstischer erscheint, weil sich das analytische Wissen, weil sich Freuds Erfolg immer mehr ausbreitet: je mehr das Subjekt von sich selbst weiss, desto mehr verkennt es sich selbst. Dies rührt daher, dass es nichts Einfacheres gibt, als die Psychoanalyse in eine Psychologie, das heisst die analytische Anerkennung in einen Narzissmus der Erkenntnis zu verwandeln. Wer nicht auf der Hut ist, ist zur narzisstischen Ohnmacht verdammt. Er findet nicht sich wieder, er trifft nur auf das eigene Selbst, oder, wie die Amerikaner zu sagen pflegen: er trifft auf das eigene Self. Das Self zu finden, ohne sich wiederzufinden, genau das ist das Merkmal des Narzissmus der Theorie.

 

Dies lese ich aus der Art und Weise heraus, in der Freud den Narzissmus – etwa so, wie man einen Gast einführt – in die dramatischen Feiern der Triebe und ihrer Objekte einführt.

 

XI.

Aber wie soll man zuletzt die Freudsche Lektüre der Melancholie lesen?

Ich sage sogleich, wie ich das Ganze sehe: Für Freud ist der Melancholiker ein Narziss. Indem er sich selbst schindet, verfolgt er das, was es an Schwäche in ihm gibt, das also, was wir «jüdisch» nennen können: das Kind, den Alten, den Unangepassten, den Idioten, die zerbrechliche Frau oder ganz einfach den harmlosen Menschen, der – ohne viel nachzudenken und ohne sich viele Skrupel zu machen – einfach leben will. Alle diese Schwächlinge sind Teile seiner selbst, die er unterdrücken möchte. Wenn Freud vom sadistischen Über-Ich des Melancholikers spricht, versucht er zu zeigen, wie der Depressive das, was er als ungenügend empfindet, lieber unterdrückt, als es «leben zu lassen» oder es «sein zu lassen». Der Melancholiker sagt nie: «So sei es!», er gibt sich nicht dafür her, die Schwachen mit sich herumzutragen, das heisst: das, was schwach in ihm ist. Darin besteht der grössenwahnsinnige Grund eines jeden Melancholikers, seine euthanasische Eile. Deshalb koexistiert der manische Grössenwahn in gewisser Weise stets mit der Depression. Der manisch-depressive Kreislauf entfaltet eine Art Synchronie in der Zeit, eine Art logischer Implikation: Die Manie ist nicht bloß die Kehrseite der Melancholie, sie ist zugleich ihre Regel.

Als in den Sechzigerjahren Eichmann, dieser grosse Manager der Judenvernichtung, in Jerusalem zum Tode verurteilt wurde, erzählte man sich den folgenden Witz. Als sie Eichmann nach seinem letzten Wunsch vor der Hinrichtung fragten, antwortete er: «Ich will mich zum Judentum bekehren, ich will ein Jude werden.» Sein Wunsch wird erfüllt. Als er sich auf den Weg zur Gaskammer macht, reibt er sich die Hände und flüstert dabei: «Ein weiterer Jude weniger auf dieser Welt!» Dieses Witzchen trifft einen wichtigen Punkt der melancholischen Selbstanklage.

 

Aus dem Italienischen übersetzt von René Scheu

 

 



[1].

 

 Es handelt sich bei diesem Text um die Neubearbeitung eines Vortrags, den ich anlässlich des internationalen Kongresses «Storia di un genere naturale: la melanconia» (durchgeführt vom Centro Ricerche sulle Scienze Umane e la Psichiatria und abgehalten im Istituto per gli Studi Filosofici di Napoli) am 1. Juni 1989 in Neapel gehalten habe.

[2]. Diese Information verdanke ich Giuliana Kantzà, der Leiterin einer Untersuchung über die Krankenberichte der psychiatrischen Krankenhäuser in der Toskana im 20. Jahrhundert.

[3]. Vgl. zur Kritik an der – mit Abscheu erfüllten – Ablehnung der Beeinflussung bzw. der «Suggestion» durch die Analytiker das Buch von Isabelle Stengers & Leon Chertok: Le Coeur et la Raison. L’hypnose en question, Payot, Paris 1989; Isabelle Stengers: The Psychoanalysts‘ Narcissistic Wound, in: Journal of European Psychoanalysis, 1, 1995, S. 105 – 111

[4]. Diese Behauptung muss sogleich die Einwände von Marco Focchi gewärtigen. Focchi hat ein Buch geschrieben, das im Gegensatz zu Heinz Hartmann auf der Idee beruht, dass der Narzissmus keinesfalls reflexiv, sondern transitiv ist (Marco Focchi: «L’identità vuota», Guerini, Milano 1991, cap. IV). Während der Narzissmus bei Hartmann in reflexiven Begriffen als Besetzung des eigenen Körpers (im Gegensatz zur Besetzung anderer Personen) definiert wird, gilt es nach Focchi, Lacan darin zu folgen, das Ich als «geliebtes Objekt» des Narziss zu betrachten und also eine auf das Objekt gerichtete und transitive Perspektive einzunehmen. Und zwar deshalb, weil der Narzissmus der Dialektik des Begehrens nicht entgeht, wobei das Begehren als solches objektbezogen ist, das heißt auf Objekte bezogen, die sich außerhalb des Ichs befinden, wie etwa die Teile des eigenen Körpers. Es ist in der Tat wahr, dass man, sobald man Begriffe wie «Ich», «Reflexivität», «Sich», «Autoerotismus», «Liebe der Liebe» zu manipulieren beginnt, sich sogleich in einen Knäuel von Umkehrungen verstrickt. Genau wie in einigen Filmen von Orson Welles (wie etwa in A Lady from Shangai) wird es unmöglich, das Spiegelbild vom reflektierten Objekt zu unterscheiden. Es geschieht mit diesen insgesamt reflexiven Begriffen der Psychoanalyse das, was auch in der Logik oder in der Philosophie geschieht, sobald man die sogenannten selbstreferentiellen Aussagen auf den Plan ruft: Kataloge der Kataloge, Aussagen, die Aussagen über sich machen, «ich lüge», Selbstzitate usw. Logiker und Philosophen müssen sich in allen diesen Fällen mit diesen unauflösbaren Paradoxa herumschlagen. Obwohl nun Focchi die Reflexivität der Transitivität entgegensetzt, können wir auch die Reflexivität als eine Variante der Transitivität lesen. «Ich schlage mich» im Sinne von «Ich schlage meine eigene Person» (das heißt: nicht Io mi batto, sondern Io batto me stesso) ist ein zugleich reflexiver und transitiver Satz, wohingegen «Ich spaziere» transitiv und keinesfalls reflexiv ist. Nun mag es scheinen, dass es sich hier bloß um sophistische Fragen terminologischer Natur handelt und dass es genügt, sich auf gewisse Begriffe zu einigen. In Wirklichkeit aber stehen in diesen terminologischen Fragen die grundlegenden Probleme nicht nur der Theorie, sondern auch der Klinik und der psychoanalytischen Ethik auf dem Spiel. Ich beschränke mich an dieser Stelle darauf, diesen «intransitiven» Aspekt des Narzissmus hervorzuheben, genau deshalb, weil er sich in einem offensichtlichen Widerspruch zur grundlegenden «Transitivität» befindet, die Freud den Trieben, dem Wunsch und der Libido zuschreibt. Die Einführung des Narzissmus kommt aus Freuds Perspektive der Einführung eines paradoxen Gastes gleich, eines widersprüchlichen Eindringlings, der sich in jenem Theoriegebäude einnistet, das bisher wohlgeordnet, zusammenhängend und vollständig scheinen konnte. Wie ich zu zeigen versuchen werde, muss auch die Melancholie als ein Paradox des Narzissmus gesehen werden.

[5]. Ich versuche nicht, die Kleinianischen Interpretationen schlecht zu machen. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass die ethische Strategie der Kleinianer auch die relevanten Aspekte der menschlichen Vorstellungswelt – vor allem in der frühesten Kindheit – zu begreifen vermag.

[6]. Vgl. R. Ackerman und R.J. Derubeis: Is depressive realism real?, in: Clinical Psychology Review, 11, 1991, S. 565 – 84. Vgl. zur Debatte unter Psychologen über den größeren bzw. geringeren «Realismus» der Depressiven Maria Miceli und Cristiano Castelfranchi: Le difese della mente. Profili cognitivi, La Nuova Italia Scientifica, Roma 1995, cap. XI e XIII.

[7]. (Freud 1917e, 435): «Der Schatten des Objekts fiel so auf das Ich, welches nun von einer besonderen Instanz wie ein Objekt, wie das verlassene Objekt, beurteilt werden konnte.»

[8]. T.S. Eliot: The hollow men.

[9]. Ich beziehe mich auf den Roman Oblomov von Ivan A. Goncarov.

[10]. (Freud 1917c, 438) Hier heißt es wörtlich: «Hat sich die Liebe zum Objekt, die nicht aufgegeben werden kann, während das Objekt selbst aufgegeben wird, in die narzisstische Identifizierung geflüchtet, so betätigt sich an diesem Ersatzobjekt der Hass, indem er es beschimpft, erniedrigt, leiden macht und an diesem Leiden eine sadistische Befriedigung gewinnt. Die unzweifelhaft genussreiche Selbstquälerei der Melancholie bedeutet ganz wie das entsprechende Phänomen der Zwangsneurose die Befriedigung von sadistischen und Hasstendenzen.»

[11]. Die Psychoanalytiker, die nach ihm kommen, wundern sich darüber und fragen sich, wie Freud übersehen konnte, dass der Depressive von der Oralität – und nicht etwa der Analität – gleichsam aufgesogen wird. Dieses Gleiten von der Analität zur Oralität ist ein Zeichen des psychoanalytischen Paradigmenwechsels: Das Modell einer jeden Pathologie wird in der frühzeitigen Oralbindung an die Mutter gesucht und nicht mehr, wie noch bei Freud, in einer Dialektik zwischen dem erogenen Körper und seinen Objekten.

 

 

Literatur

 

Binswanger, Ludwig: Melancholie und Manie: Phänomenologische Studien, Günther Neske, Pfullingen 1960

Eliot, Thomas: The hollow men

Lasch, Christopher: Das Zeitalter des Narzissmus, Hoffmann und Camper, Hamburg 1995

Lacan, Jacques: «Le stade du miroir comme formateur de la fonction de Je», in: Ecrits, Seuil, Paris 1966/dt. Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion. Übersetzt von Peter Stehelin. In: Schriften I, herausgegeben und ausgewählt von Norbert Haas. Walter Verlag, Olten/Freiburg 1973, S. 61-70

Freud, Sigmund (1914c): Zur Einführung des Narzissmus GW X, Frankfurt, S.Fischer 1949, S. 138 – 170

Freud, Sigmund (1917e): Trauer und Melancholie, GW X, Frankfurt, S.Fischer 1949

Winnicott, Donald W.: The theory of the Parent-Infant Relationship, Hogarth Press and the Institute of Psychoanalysis, London 1960

 

Flussi © 2016Privacy Policy