Fluxury by Sergio Benvenuto

Neglect. Reflexionen zwischen Neurowissenschaft und PhilosophieMar/31/2017


Sergio Benvenuto

 

Wie Maurice Merleau-Pontys Überlegungen zu Halluzinationen zeigten, kann sogar eine neurologische Läsion der Philosophie Anregung bieten. Ich glaube, daß auch das sogenannte Hemispatial Neglect der Philosophie Nahrung geben kann. Ich beziehe mich auf dieses als Unilateral Spatial Neglect, USN. Der Name ist gut gewählt, weil es sich nicht um explizite Blindheit handelt und auch nicht um Ignorieren (Nichtbeachten, Nichtwahrnehmen), sondern um etwas dazwischen: Neglect, Nichtbeachtung oder auch Vernachlässigung liegt zwischen Blindheit und Indifferenz. Wenn man blind ist, weiß man, man ist blind; die vom Neglect Heimgesuchten dagegen sind anosognosisch:[i] Sie sind sich ihrer räumlichen Einseitigkeit oder – wenn man so will – Parteilichkeit nicht bewußt, bis man sie darauf hinweist.

Anosognosisch sind auch die, welche heimgesucht werden von einer Art des „Wahrnehmens“, die wir als das Gegenteil von USN betrachten können: das Anton-Babinski Syndrom. Diese Patienten leiden an kortikaler Blindheit (in der Regel aufgrund einer Läsion am Hinterkopf), meinen aber, noch sehen zu können. Das Anton-Syndrom ist das visuelle Äquivalent zum Phantomglied, die Empfindung von Amputierten, die glauben, den Arm oder das Bein, das es nicht mehr gibt, noch zu besitzen. Analog zum Phantomglied könnten wir das Anton-Syndrom „die Phantomsicht“ nennen. Diese Patienten bewegen sich in ihrer Umgebung ohne Grenzen oder Vorsichtsmaßnahmen, da sie davon überzeugt sind, daß sie sehen können. An der Erfahrung dieser Subjekte beeindruckt die Art und Weise, wie sie ihre Blindheit verkennen; sie konstruieren sich Rationalisierungen, um ihren Glauben aufrechtzuerhalten. Wenn jemand so durch ein Zimmer geht und gegen ein Möbelstück stößt, schreibt er dies nicht der eigenen Blindheit zu, sondern dem Umstand, daß das Möbel „nicht mehr an seinem Platz steht“ (Sacks 2011).

Beim Anton-Babinski-Syndrom, der sogenannten Hemiasomatognosie, kann der Patient die linke Hälfte seines eigenen Körpers nicht mehr spüren. Einen genauen Zusammenhang herzustellen zwischen dem USN und der Hemiasomatognosie ist nicht einfach. Da fällt einer aus dem Bett beim Versuch, den eigenen linken Arm wegzuschieben, weil er denkt, dieser gehöre einem anderen. Auch diese Personen sind – wie die, die unter Phantomsicht oder USN leiden – Anosognostiker; sie wollen ihr Manko nicht anerkennen und konfabulieren. Lenkt man die Aufmerk­samkeit eines Hemiasomatognostikers auf dessen linken Arm, den er nicht sehen kann, wird er sagen, dies sei der Arm eines anderen, etwa des Arztes, oder sogar, es sei „ein Arm, den jemand zurückgelassen hat“ – und riskiert dabei die Diagnose „Psychose“. Jacques Lacan würde sagen, sie seien von einer forclusion[ii] ihres Mankos heimgesucht.

Hier finden wir erneut die Tendenz, rational zu erklären, was wir gar nicht erfahren haben, welche schon im 19. Jahrhundert bei der Anwendung der Hypnose festgestellt wurde. Der Hypnotiseur erteilte der in hypnotischen Schlaf versetzten Person einen absurden Befehl, beispielsweise verschiedene auf einem Tisch stehende leere Gläser umzudrehen; zugleich befahl er ihr zu vergessen, diesen Befehl erhalten zu haben. Sobald das hypnotisierte Subjekt erwacht war, führte es den erteilten Befehl unmittelbar aus. Wenn der Hypnotiseur fragte: „Aber warum hast du das getan?“, gab es stets eine rationalisierende Antwort wie: „Ich möchte nicht, daß die Gläser einstauben“. Diese konfabulierende Verkennung dessen, was uns zwingt, etwas zu tun und etwas zu glauben, sollte uns daher helfen, etwas Allgemeineres über die Struktur der Beziehung des Menschen zum eigenen Wissen zu formulieren.

 

Das USN rührt gewöhnlich von einer Läsion der Verbindung des Scheitelbeins mit dem hinteren parietalen Kortex des Gehirns. Wer davon betroffen ist, erkennt nur einen Teil des eigenen Gesichtsfeldes und „sieht“ den anderen, fast immer linken Teil nicht. Was zu Situationen führt, die an absurdes Theater denken lassen. Da ist zum Beispiel Frau S. (beschrieben von Oliver Sacks 1986), die infolge eines massiven Schlaganfalls „nachlässig“ wurde. Wann immer sie Lippenstift auflegte, bemalte sie nur die rechte Hälfte ihrer Lippen, die linke Hälfte sparte sie aus. Wies man sie darauf hin, begriff Frau S., eine gebildete, intelligente Sechzigjährige, die Situation, und sie konnte sogar darüber lachen. Aber es war ihr unmöglich, es direkt wahrzunehmen. Sie wußte es, kümmerte sich aber nicht darum.

Wenn ein „Neglektiker“ aufgefordert wird, eine Uhr zu malen, so wird er entweder nur die sieben Ziffern von zwölf bis sechs zeichnen oder die ganzen zwölf Ziffern, aber allesamt auf der rechten Seite der Uhr angeordnet. Dasselbe gilt für Wörter. Von einem Wort wie „Wohnhaus“ liest die Person lediglich den Teil „haus“.

Während ein von der Phantomsicht des Anton-Syndroms heimgesuchter Mensch etwas, das er sieht, nicht als inexistent auffassen kann, erkennt der vom USN betroffene Mensch etwas nicht als existent an, was er bis zu einem gewissen Grade tatsächlich sieht.

 

Unbewußte Wahrnehmung

Der USN hat zwei Varianten. Bestimmte Subjekte können nur die Objekte sehen, die sich rechts von ihrer mittleren Sichtlinie befinden – hier spricht man von einem egozentrischen Neglect. Andere Subjekte hingegen können alle Objekte in ihrem Gesichtsfeld sehen, auch die auf ihrer Linken, aber von jedem Objekt se­hen sie immer nur die rechte Seite – hier spricht man von allozentrischem[iii] Neglect, für den Philosophen der interessantere. Zeigt man einer solchen Person das Photo eines Kopfes verkehrt herum, wird sie in der Lage sein, das Photo in die richtige Position zu drehen, um dann jedoch den linken Teil dieses Photos zu ignorieren, den es doch noch genau beschrieben hatte, als das Photo auf dem Kopf stand.

Der USN ist nicht auf Wahrnehmung begrenzt; er überträgt sich auch auf das imaginative Leben. Edoardo Bisiach und Claudio Luzzatti (1978) beschrieben die Fälle zweier Patienten mit Hemianopsie infolge eines Schlaganfalls. Als man sie bat, sich vorzustellen, wie sie durch eine wohlbekannte Straße gingen und zu berichten, was sie dabei sahen, beschrieben beide Patienten nur die Läden auf der rechten Seite; aber als man sie danach bat, sich vorzustellen, wie sie sich umdrehten und zurückgingen, beschrieben sie diejenigen Läden, die sie zuvor nicht „imaginiert“ hatten, also jene, die sich nunmehr rechts von ihnen befanden. Solche Fälle zeigen, daß zwischen perzeptiven Erfahrungen und visuell imaginierten nicht jener Abgrund klafft, den phänomenologische Philosophien unterstellen (ich denke dabei besonders an Sartre, 1940).

Es soll aber auch gesagt werden, daß diese Erfahrungen in anderer Hinsicht Wasser auf die Mühlen der Phänomenologie sind, insofern sie die empiristische Wahrnehmungsphilosophie aus den Angeln heben, der zufolge wir nur farbige Punkte wahrnehmen, um diese dann – dank der Widerspiegelung – als rechts von uns oder links von uns befindlich einzuschätzen. Diese Fälle sagen uns, daß das Rechts-von-mir-Sein und das Links-von-mir-Sein selbst Objekte der Wahrnehmung darstellen, nicht anders als die Wahrnehmung der Farben Rot oder Grün (tatsächlich gibt es Personen, die Rot und Grün nicht wahrnehmen – die Farbenblinden).

 

Man kann nicht wirklich von Blindheit der linken (sehr selten der rechten) Seite des Gesichtsfelds sprechen, weil es nichts Relativeres, Subjektiveres und Wechselhafteres gibt als das, was sich links oder rechts von uns befindet. Damit der linke Teil eines Ganzen, olón, sich als solcher erweist, ist es erforderlich, daß ich dieses Ganze irgendwie wahrnehme, eben um eine linke Seite, die ich nicht sehe, und eine rechte, die ich sehe, auseinanderhalten zu können. So wird ein allozentrischer Hemiognostiker, der vor einer runden Pizza sitzt, nur den rechten Teil der Pizza verspeisen, was aber impliziert, daß er die vollständige Pizza zuvor als ein Ganzes identifiziert hat, das eine linke und eine rechte Seite hat. Handelt es sich um einen egozentrischen Neglect, bräuchte dieser den Kopf nur leicht nach links zu drehen, und die linke Seite der Pizza würde, nun auf die rechte Seite verschoben, in sein Aufmerksamkeitsfeld geraten. Aber ein Patient mit allozentrischem USN ignoriert die linke Seite eines jeden Objekts, unabhängig von der Position einer Person bezüglich der Mittellinie ihres eigenen Blickfelds. Unbewußt muß er aber die linke Seite eines jeden Objekts „wahrnehmen“, eben weil er weiß, wenn auch nur unbewußt, daß jenes Ding ganz ist. Kurzum, er nimmt den linken Teil wahr und zugleich nicht wahr. Wenn zum Beispiel ein allozentrischer Hemiagnostiker vor einer Pizza sitzt und man zu ihm sagt: „Zieh die Pizza auf deine rechte Seite, auf diese Weise kannst du auch den linken Teil sehen“, dann wird der Kranke dazu nicht in der Lage sein. Seine Verkennung des linken Pizzateils erweist sich tendentiell als stärker, selbst wenn der linke Pizzateil de facto auf die rechte Seite seines Blickfelds verschoben wird.

Oliver Sacks’ Patientin hatte ein trickreiches System ausgeknobelt, um den linken Teil der Dinge „wiederzufinden“. Wenn sie einen Kuchen aß, dann nur den rechten Teil. Aber, auf einem Drehstuhl sitzend, drehte sie sich ganz nach rechts um etwa 360°, bis sie den linken Teil des Kuchens „entdeckte“, da dieser ja nun rechts von ihr erschien. Von diesem verbliebenen Teil verspeiste sie … die rechte Hälfte. Sie drehte sich erneut, fand, was übrig geblieben war, und aß davon wiederum die rechte Hälfte. Kurzum, der Kuchen wurde bei jeder Drehung kleiner. Frau S., der es nicht an Bildung fehlte, verglich sich mit dem Pfeil des Philosophen des Zenon.[iv] Und mit Achilles, der sich der Schildkröte asymptotisch nähert, ohne sie je einzuholen.

Die Rechtsdrehung mit dem Stuhl ist äußerst instruktiv: Sie erlaubte ihr, den Kuchen als ganzes Objekt zu ihrer Rechten „wiederzufinden“ und auf diese Weise auch die rechte Hälfte zu verzehren. Der Primat des Rechten setzt ein Ganzes voraus, auch wenn das Ganze niemals als solches wahrgenommen wird.

 

Rechts versus links

Die Tatsache, daß Neglect zumeist die linke Seite betrifft, mag erstaunen angesichts dessen, daß wir in unserer rationalistischen Kultur rechts und links als gleichwertig einschätzen. Heute glaubt niemand mehr, Linkshändigkeit sei ein Handicap oder ein Teufelszeichen. Wir glauben, in bezug auf die rechte oder linke Seite unseres Blickfelds „neutral“ zu sein. Dem Umstand, daß sich etwas rechts oder links von uns befindet, messen wir im Grunde keine Bedeutung bei. Aber der USN erweist, daß die Dinge anders liegen: daß das Links-von-etwas-Sein und das Rechts-von-etwas-Sein Positionen voller Bedeutsamkeit sind, auch wenn wir Rationalisten dieser Bedeutung gegenüber blind sind. Woher rührt diese natürliche „Präferenz“ unseres Geistes für die rechte Seite?

Beim USN wird die linke Seite wegen einer Läsion in der rechten Hemisphäre des Großhirns „vernachlässigt“; die entsprechenden Läsionen in der linken Hälfte des Großhirns hingegen führen gewöhnlich nicht zu einem Neglect der rechten Seite. Warum? Die rechte Hemisphäre ist auf Raumwahrnehmung und auf Gedächtnis spezialisiert, auf die raumzeitliche Dimension unserer Beziehung zur Welt. Die linke Hemisphäre dagegen ist auf die Sprache und damit auf Begriffe spezialisiert. Philosophischer ausgedrückt: Die rechte Hemisphäre privilegiert das Sinnliche, die linke Hemisphäre das Intelligible. Deshalb erweckt der linke Teil unserer Welt für uns den Anschein des „sinnlichen“ Teils, wenngleich wir uns dieses Anscheins nicht bewußt sind. Es ist der Teil, den Philosophen seit der griechischen Antike oftmals verachteten als denjenigen, den wir mit anderen Tieren gemein haben. Die Sprache, die Fähigkeit zur Symbolisierung sind dem Homo sapiens vorbehalten. Kurzum, unser Gehirn setzt die rechte Seite als etwas Begriffliches, „Hochstehendes“ ein und die linke als etwas Perzeptives und Affektives, Tierverwandtes, Niederes.

Beide Hemisphären besetzen das rechte Gesichtsfeld auf redundante Weise, weshalb es ein nicht nur zerebrales Privileg genießt. Die rechte Hemisphäre ist in der Lage, die Funktionsverluste der linken Hemisphäre zu kompensieren; umgekehrt gilt das nicht. Das Sinnliche kompensiert das Begriffliche, aber nicht um­gekehrt. Ohne das Sensible ist das Intelligible blind. Als ob es für den rechten Teil der Welt für uns zwei El­ternteile gäbe, so daß, wenn einer stirbt, einer übrigbleibt. Aber beim linken Teil der Welt für uns ist es so, als gäbe es nur einen Elternteil, und wenn dieser stirbt, verwaist und verwahrlost dieser Teil. Wenn nun ein Defizit des „sinnlichen“ Teils des Gehirns auf dem linken Teil den USN bewirkt, ein Defizit der „intelligiblen“ Hemisphäre dagegen keinen USN auf der rechten, liegt der Schluß nahe: Die Unterscheidung rechts/links gehört eher zum System des Sensiblen als zu dem des Kognitiven. Dies bestätigt die erwähnten antiempiristischen Schlußfolgerungen. Ich würde sagen: Das Links-Sein-in-der-Welt gehört zur sinnlichen und mnestischen[v] Dimension unseres In-der-Welt-Seins, während unser intelligibler Teil hinsichtlich der Unterscheidung von rechts und links indifferent ist. Wir denken, die Unterscheidung links/rechts sei nicht wichtig, aber gefühlsmäßig ist sie äußerst wichtig. Das heißt, unser Intellekt ist gegenüber einer bestimmten Ordnung des Sinnlichen unempfänglich. Trotz der Erscheinungsformen der Welt und unserer bewußten „Erfahrung“ gibt es einen (schwer zu bestimmen­den) Primat des Rechten gegenüber dem Linken – ein Privileg, das menschliche Kulturen vollkommen anerkannt haben.

Diese Asymmetrie zwischen links und rechts tritt in den Sprachen und Kulturen deutlich hervor und wird in vielen Bereichen zur Geltung gebracht. Die Hierarchie rechts/links ist also kein Aberglaube aus finsteren Jahrhunderten, sondern hat spezifische neurologische Grundlagen.

In vielen Sprachen ist das Wort für „rechts“ dem Wort für „dritto“ (geradeaus, redlich) oder „giusto“ (gerecht, richtig, gut) ähnlich oder gleich. So im Deutschen die „Rechte“.[vi] „Right“ bedeutet in Englisch sowohl rechts als auch das Recht oder auch Recht haben (I am right). Im Französischen verweist „droite“ (rechts) auf „droit“ (Recht). Auf Portugiesisch bedeutet „direita“ sowohl rechts, gerade­aus und Recht im juristischen Sinne. Im Italienischen sagt man „un tipo dritto“, um zu sagen, einer sei tüchtig, geschickt, effizient. Im Russischen bedeutet „pravyi“, „rechts“, auch noch richtig und gut; auf russisch sagt man „pravo“ (Gesetz), und das italienische „andar dritti“, ohne Umwege ein Ziel ansteuern, heißt „napravo“ – usw.

In etlichen Kulturen ist es ein Privileg, zur Rechten einer Person positioniert zu sein. Schon bei altrömischen Wahrsagern ortete man die gu­ten Omen, Geschicklichkeit und Erfolg auf der rechten Seite; mittelalterliche Theologen erkannten auf der Rechten die Seite des Göttlichen und des Tages; es war eine besondere Ehre, zur Rechten eines Königs oder Kaisers zu stehen. Beim Spazierenge­hen soll die Frau an der rechten Seite des Mannes gehen.

Bei den Theologen galt umgekehrt die linke als die Seite der Hölle und der Verdammten, der Nacht, der bösen Omen und des Scheiterns. In vielen Sprachen evoziert das Wort „links“ etwas Plumpes, Linkisches, auch Anrüchiges, Beunruhigendes, Unheilvolles oder Alarmierendes oder alles zusammen. „Mal-destro“ meint etwas Tückisches oder auch nur Un-geschicktes. Auf italienisch kennt man den „tipo sinistro“, ein anrüchiger – sinistrer – Typ; das Substantiv „il sinistro“ bedeutet Schaden, Unheil. Auf spanisch hat „sinistra“ unheilvolle Konnotationen, neutraler ist der Begriff „izquierda“. Auf französisch bedeutet „gauche“ dubios aber auch unbeholfen, tollpatschig. Im Deutschen kommt „linkisch“ von „links“. „Left“ bedeutet im Englischen links, und „left-handed“ mehrdeutig, anrüchig. Außerdem ist „left“, „links“, ein Homonym von „left“, verlassen, weshalb wir sagen könnten, daß für den Engländer die Linke das ist, was übergangen, ausgeschlossen, übriggeblieben ist, left over. Im Russischen bedeutet „levyi“, „links“, auch falsch, irrig, und „nach links gehen“ bedeutet auch, seiner Gefährtin oder dem Gefährten untreu zu sein.

Jahrhundertelang galt die linke als die Hand des Teufels. Lange glaubte man, dieses semantische Privileg von rechts gegenüber links sei das Resultat archaischer kultureller Vorurteile. Aber diese tendenzielle Identifikation von „rechts“ mit „aufrecht“ und „redlich“ scheint angeborene Fundamente im Gehirn zu haben. Das kulturelle Vorurteil läge statt dessen bei uns modernen Menschen, die wir gegenüber einer im Gehirn wurzelnden semantischen Differenz zwischen links und rechts blind sind.

Daher interessiert uns das physische Handicap Unilateral Spatial Neglect wegen seiner metaphysischen Aura. Die von USN heimgesuchten Kranken sind Personen, die anscheinend nur den „richtigen“, wichtigen Teil sehen wollen – den aufrechten rechten Teil. Offenbar verwerfen (forclusion) sie den Anblick der linken, armseligen und zweitrangigen Seite der Welt. In diesem Sinn verstärken sie auf unverhältnismäßige Weise einen Tropismus, der zu uns allen gehört, selbst wenn wir ihn übersehen.

 

Die Verliererlinke

Man sagt, „die Linke“ verdanke ihren Namen im politischen Spektrum schlicht einer Übereinkunft, die auf die Sitzordnung der Abgeordneten in der Konstituante, der Verfassungsgebenden Versammlung zur Zeit der Französischen Revolution, zurückgeht. Damals saßen die Moderateren zur Rechten des Versammlungspräsidenten, die Radikaleren zu seiner Linken. Ich glaube allerdings, daß es kein Zufall ist, daß jener Teil der Politik, der „links“ genannt wird, diesen Namen trägt.

Die politische Linke versteht sich als diejenige Partei, die „die Schwächsten“ unterstützt, das heißt, sie kümmert sich um die vernachlässigten Teile der Gesellschaft. Ich frage mich: Wäre es möglich, daß die politische Linke, eben weil sie sich über ihre Hinwen­dung zu den Marginalisierten, Armen und Diskriminierten definiert, eben aus diesem Grunde schon von Anfang an politisch gehandicapt ist? Neigt die amerikanische Linke deshalb dazu, den Begriff „left“ nicht zu verwenden und sich lieber „liberal“ oder „democrat“ nennen zu lassen? Impliziert die Akzeptanz des Namens „links“ nicht irgendwie das Eingeständnis einer Inferiorität, auch wenn diese aufgehoben werden soll? Ande­rerseits ist es kein Zufall, daß die Rechte sich „Rechte“ nennt. Wir haben gesagt, daß unsere Beziehung zur Welt aus Sicht der Neurowissenschaften asymmetrisch ist, und daß der rechte Teil unse­res Körpers und der Welt von beiden Hemisphären in reichem Maße besetzt ist; kurzum, es ist der „reichere“ und bedeutendere Teil, während der linke Teil des Körpers und der Welt vorwiegend von der rechten Hemisphäre versehen wird, die emotionaler und der marginalere, „arme“ Teil ist.

Wann immer ich mit Leuten rede, die die politische Linke hassen und die ungebildet oder einfach ehrlich sind, höre ich immer dieselbe Kritik: „Die Linke möchte uns alle gleichmachen und uns alle zu armen Teufeln machen!“ Die Rechte dagegen wird mit Macht und Ambitionen identifiziert – mit den Reichen, den Erfolgreichen, mit Gott, den kirchlichen Hierarchien, der Polizei – die Linke dagegen mit Verlierertypen, die neidisch geifern gegen alle, die reich oder erfolgreich sind.

Und die Linke hat sich, seit sie so genannt wird, ja wirklich jene sozialen Gruppen zu ihren Favoriten erwählt, die als die am stärksten „Vernachlässigten“ gelten. Es ist ihre Aufgabe, uns an die Existenz jenes Teils der Gesellschaft zu erinnern, den wir nicht wahrnehmen wollen oder können, jedenfalls nicht beachten; sozial gesehen neigen wir alle zum Neglect-Syndrom. Das Unterfangen der politischen Linken ist also besonders unwegsam. Es ist, als versuche die Linke, ein angeborenes neurologisches Ungleichgewicht gegenüber der Rechten zu kompensieren, indem sie sich selbst als Kur anempfiehlt für diesen – in dem Fall politischen – Neglect des schwächeren Teils der Gesellschaft und des Lebens. Das Paradox besteht darin, daß die politische Linke, um den „gelinkten“ (sinistrato) Teil der Gesellschaft sichtbar zu machen, ausgerechnet an unsere linke Hemisphäre appellieren muß, also an den rationaleren, tüchtigeren (destro) Teil. Es ist ein bißchen wie bei der Patientin von Oliver Sacks: Sie sieht die eigene Linke nicht, weiß aber, daß sie sie nicht sieht, und sie muß des­halb eine sowohl physische wie auch mentale Drehung um 360° vollziehen. Alle, die sich für die Linke in Stellung bringen, müssen somit eine komplexe und komplette, schwindelerregende mentale Drehbewegung vollziehen; nicht jeder ist dazu in der Lage. Sie müssen massiv an eben den tüchtigeren (rationaleren) Teil ap­pellieren, um einen spontanen Reflex überwinden zu können, der sich der Struktur unseres Gehirns verdankt. Die uns unbewußt dazu bringt, alles für dubios, sinister, zu halten, was in der Welt „links“ ist.

 

Ontologische Schocks

Daß der USN keine simple Blindheit ist, macht ihn philosophisch interessant. Man fragt sich, in welchem Maß und in welcher Weise die Betroffenen den linken Teil vernachlässigen.

Seit geraumer Zeit schon werden Behandlungen ausprobiert, die einen Patienten mit USN dazu bringen könnten, den linken Teil zu sehen. Bei einem der Behandlungsversuche wird ein sehr heftiger, grellbunter Reiz in den linken Teil des Gesichtsfeldes eingefügt, in der Hoffnung, das Subjekt möge ihn wahrnehmen.

Wie wäre es mit folgendem Experiment: Man setze den Probanden vor zwei große Boxhandschuhe, einer ist rechts und der andere symmetrisch dazu links angeordnet, wobei der linke mit einer Feder hinter der Wand verbunden ist. Man wird den Probanden bitten, die Anordnung und ihre Objekte zu beschreiben. Während der Proband den rechten Boxhandschuh beschreibt und den linken selbstredend ignoriert, läßt die Feder den linken Boxhandschuh vorschnellen, der dem Probanden zuerst heftig auf die – aus seiner Sicht – linke Gesichtshälfte boxt und dann auf die rechte. Wird er den linken Boxhandschuh weiter ignorieren können? Sicherlich nicht. Wenn auch unklar ist, auf welche Weise er ihn nicht ignorieren wird. Welchen Unterschied gibt es zwi­schen dem Schmerz eines Schlags auf die rechte und eines Schlags auf die linke Wange?

Oliver Sacks experimentierte bei Frau S. mit einem ähnlichen, nicht physischen, sondern kognitiven Schock – viel raffinierter als der, den ich mir ausgedacht habe. Er setzte sie vor einen Fernsehapparat und baute sowohl die Videoka­mera als auch den Bildschirm vor ihr auf: so mußte sie zwangsläu­fig den (in bezug auf sie selbst) linken Teil ihres Gesicht­es rechts auf dem Bildschirm erblicken – so, als sähe sie ein anderer frontal an. Die Ärmste ängstigte sich entsetzlich und heulte: „Schafft den Bildschirm fort!“ Ihr Horror rührte vielleicht von dem Umstand her, daß sie den linken Teil ihres eigenen Körpers erblickte, den sie aber doch infolge des Schlaganfalls als nicht mehr existent empfand. Anders gesagt, sie sah etwas, das für sie gar nicht existierte. Es widerfuhr ihr das Gegenteil dessen, was den Vampiren in alten Sagen passiert, deren Bild die Spiegel nicht zurückwerfen: sie sah die Widerspiegelung von etwas, das für sie nicht existierte. Ein ontologischer Schock: das Sichüberlagern von Wahrnehmung und Nicht-Wahrnehmung, Existentem und Nicht-Existentem.

Die Erfahrung, derentwegen etwas als existent erscheint, was nicht einmal in der Imagination existiert, ist etwas, bei dem das rationalistische Denken große Schwierigkeit hat, es begrifflich zu fassen und als möglich zu akzeptieren.

Ich würde unter Rückgriff auf einen Begriff von Jacques Lacan sagen, daß dieser schwer durchschaubare Mechanismus in Frau S. eine absolut ungewöhnliche – unheimliche,[vii] verwirrende, verstörende – Sensation hervorrief, weil er sie einer Begegnung mit dem Realen aussetzte. Ihr zeigte sich etwas, das nicht zu ihrer Umwelt[viii] gehörte, ja diese statt dessen sogar zerstörte. Das Reale begreife ich hier als etwas Unbegreifliches, das aber manchmal in Erscheinung tritt, zu unserer großen Angst oder auch Überraschung. Sowohl der linke Boxhandschuh, der den unter Neglect Leidenden ins Gesicht trifft, als auch der eigene linke Teil des Gesichts, der im Bildschirm rechts erblickt wird, wie im Fall von Frau S., sind unheimliche und verstörende Episoden, die ein Subjekt mit etwas in Beziehung setzen, das sich nicht in die Realität einschreibt, aber sich selbst irgendwie als das Reale aufdrängt. Das Reale ist etwas, das für ein Subjekt nicht existiert oder nicht existieren dürfte und dennoch irgend­wie ein Ereignis wird. Ein unbegreifliches Geschehen, auf das wir uns, wie man sagt, „einen Reim machen müssen“. „Physis kryptesthai philei“ – „die Natur liebt es, sich zu verbergen“, sagte Heraklit; wir könnten hinzufügen: Sie liebt es, sich zu verbergen, weil wir sie einfach nicht sehen wollen. Wir sprechen über die Subjekte mit USN wie über Behinderte, weil wir als Nicht-Hemiagnostiker etwas wahrnehmen, das jene nicht wahrnehmen. Aber die impertinente oder auch philosophische Frage lautet jetzt: Was, wenn alle (fast alle) menschlichen Wesen von einer Form von Neglect heimgesucht wären? Nicht der linken Seite der Dinge, sondern einer vernachlässigten und deshalb beunruhigenden Seite der Welt?

Daß wir alle etwas vernachlässigen, etwas nicht sehen können – wenn es uns auch unmöglich ist zu sagen, was genau –, diese Hypothese darf nicht vernachlässigt werden. Ich würde so weit gehen zu sagen: Die philosophische Reflexion nährt sich aus dieser Hypothese, vielleicht schon seit jeher. Denn müßten wir uns einge­stehen, daß wir alle immer etwas vernachlässigen, müßten wir sa­gen, daß unsere Weltsicht, auch wenn sie universell geteilt wird, unvollständig ist.

Was zählt, ist allerdings nicht das Vermögen, sagen zu können, was wir wohl vernachlässigt haben – diese Vernachlässigung kann per definitionem nicht von jenem vermeintlichen „Behinderten“, der das menschliche Wesen ist, benannt werden. Vielmehr kommt es darauf an, zu verstehen und verständlich zu machen, daß wir so „zugeschnitten“ sind, daß wir etwas vernachlässigen, das wir nicht benennen können. Selbst wenn sich dieses uns manchmal aufdrängt.

 

Ein Positivist wird einwenden: „Welchen Sinn hat es, sich das Problem von etwas zu stellen, das kein menschliches Wesen erfahren kann?“ Aus diesem Grund werden Hypothesen hinsichtlich der Existenz Gottes oder des Lebens nach dem Tode vom modernen Denken nicht einmal in Betracht gezogen: Gott oder das Leben post mortem mögen existieren, in jedem Fall aber manifestieren sich beide uns Lebenden nicht. Heute glauben viele, das, was sich uns weder sinnlich noch intelligibel manifestiert, existiere ipso facto nicht; daß wir unsere Zeit vergeuden, wenn wir uns mit etwas befassen, das sich niemals manifestiert hat. (Natürlich sagen viele, sie glaubten – an Gott, die Engel, die Jungfräulichkeit Mariens usw. Aber an etwas zu glauben bedeutet eben nicht, die Erfahrung von etwas zu machen. Die meisten histori­schen Religionen fordern von uns den Glauben an Menschen, die eine direkte Verbindung mit dem Göttlichen gehabt haben. Aber diese Erfahrung werden nur wenige Gläubige für sich reklamieren.)

Ein von USN heimgesuchtes Subjekt weiß von seiner Krankheit nur, weil es ihm andere, die nicht darunter leiden, sagen. Wenn wir aber alle eine bestimmte Seite der Welt vernachlässigten, wer oder was würde uns jemals begreiflich machen, was wir vernachlässigen?

Ist es nicht in sich widersprüchlich zu sagen, manch­mal machen wir die Erfahrung von etwas, das es für uns nicht gibt? Als die Patientin von Oliver Sacks gezwungen ist, im Video ihren linken Körperteil zu sehen, erfährt sie etwas, das nicht existiert, aber dies geschieht wirklich und fällt in „ihre“ Welt. Gibt es nichthemiagnostische Andere, die diese „unmögliche“ Erfahrung machen können?

Es gibt Menschen, die behaupten, sie hätten derartige Erfahrungen, und wir nennen diese mystisch, weil nur wenige sie haben, und Anti-Mystiker haben diese gewiß nicht. Ich denke an Visionen, Botschaften aus dem Jenseits usw. Sind nun aber diejenigen, die behaupten, sie hätten „mystische“ Erfahrungen, Täuscher? Halluzinieren sie? Oder müssen wir die Möglichkeit einräumen, daß wir und nicht sie vom Neglect geplagt sind? Das ist ein legitimes Zweifeln.

Experimente mit den an USN Erkrankten zeigen uns, daß manche Dinge sich Subjekten manifestieren, die ich „atypisch“ nennen würde. Vielleicht läuft jeder von uns Gefahr atypischer Erfahrungen: wenn etwas in unser Umfeld einbricht, das nicht existieren darf. Wenn Personen die Erfahrung von etwas machen, das für sie nicht existiert. Eine paradoxe Erfahrung von etwas, wovon man keine Erfahrung haben kann.

 

Signale und Geräusch

Können wir diese – gelegentlichen, seltenen – Manifestationen von etwas, das sich uns „normalerweise“ nicht manifestiert, begrifflich fassen? Wir müssen es.

Nehmen wir die Unterscheidung von Umwelt[ix] (wörtlich: Welt um einen Organismus herum) und Welt,[x] die der Biologe Jakob Johannvon Uexküll, Schüler von Heidegger, herausgearbeitet hat. Die Umwelt ist nicht jene Gesamtheit von Dingen und Bedingungen, die dem tierischen Organismus von außen begegnen, eine Gesamtheit, die für alle in diesem Raum lebenden Organismen nahezu gleich ist. Die Umwelt ist vielmehr das, was sich als relevant und bedeutsam für den Organismus einer gegebenen Spezies herausstellt: sie ist die Gesamtheit von Merkmalen, „Träger von Bedeutung“ für das Tier, die Signale begründen, die zu ihm gehören, die geeignet sind, bestimmte, in den Organismus Körper eingeschriebene Reaktionen hervorzurufen (Kalevi). Enthemmung[xi] nannte Heidegger den äußeren Reiz, Träger des Signifikats. Das heißt, daß verschiedene Arten in ein und demselben Territorium leben können, aber eine jede Spezies ihre eigene Umwelt haben wird. Daher eine Äußerung von Uexkülls ganz in kantianischem Tenor – „kein Tier kann zu einem Objekt als solchem in Be­ziehung treten“. Von dem Universum, das wir für begreifbar halten, bemerken wir faktisch nur das, was als Reiz, als Signal für unsere Spezies funktioniert. Neben dem Signal existiert nur das Geräusch.

In der Kommunikationstheorie unterscheidet man Signal und Geräusch. Zwar reagiert jeder Organismus auf Signale seiner eigenen Umwelt, er kann dem Geräusch, das außer-umweltlich (extra-ambientale) bleibt, also nicht erkennbar, jedoch keinen Sinn verleihen. Das Geräusch ist das Nicht-Dazugehörende, das jeder Organismus vernachlässigt, nicht beachtet, selbst wenn dies dramatische Folgen für diesen Organismus haben kann.

Die Eigentümlichkeit des Homo sapiens besteht darin, daß er sich andererseits für das Ge­räusch interessiert – für sein Geräusch. Es gibt menschliche Wesen, die sich für etwas interessieren, was sie gar nicht interessieren sollte. Aus dem einzigen Grund, daß er die Umwelt von einem „geräuschvollen“ Realen jenseits dieser Umwelt unterscheidet, vermutet der Mensch in der Tat, das Reale sei etwas, das ihn nicht enthemmt. Das menschliche Wesen (alle?) weiß, daß es gezwungen ist, das Reale zu vernachlässigen, und dieses Wissen befreit es von der Anosognosie.

Wittgenstein äußerte sich in seinen Schriften über Ethik und Ästhetik ziemlich ähnlich. Er sprach vom „Mystischen“,[xii] von Dingen, die man nicht benennen kann, weil sie fernab der Welt liegen. Dennoch zeigen sich diese Erfahrungen-fernab-der-Welt in der Welt, aber eben als Erfahrungen-fernab-der-Welt. Hier nenne ich Umwelt,[xiii] was Wittgenstein Welt[xiv] nannte. Ethische Handlungen, die großen ästhetischen Errungenschaften – und vielleicht die Beziehung zum Göttlichen, der enthusiamós der Antike – offenbaren sich als fernab-der-Umwelt.[xv] All diese Dinge sind so etwas wie ein unsicht­barer linker Teil unserer Existenz.

Die ethische sowie die ästhetis­che Dimension verstören uns, eben weil sie „Geräusch“ sind verglichen mit der Umweltlichkeit (ambientalità), zu der wir in wechselseitiger Beziehung stehen. Die umweltliche Ethik ist sozusagen utilitaristische Philosophie (Hume, Bentham, Mill …). Für den Utilitarismus bedeutet, etwas Gutes zu tun, sich selbst oder den anderen Genuß zu verschaffen. Aber wie wir gesehen haben, ist die Maximierung des Genusses – dem modernen Naturalismus zufolge – nur Mittel zum höchsten Zweck: Die Ethik wäre dann eine Strategie zur maximalen Reproduktion unserer Gene. Kant nannte dieses Universum der Affekte und Emotionen, auf dem die „hypothetischen“ ethischen Imperative dem Utilitarismus zufolge angeblich gründen, „pathologisch“. Doch der authentische ethische Akt durchbricht diese Pathologie der Nützlichkeit, weil er uns ins Gesicht schleudert, was wir in unserem zweckbetonten Leben stets vernachlässigen: die absolute Verlockung des Wohls des anderen als etwas, das uns über unsere normale Welt hinaustreibt. Während in unseren umweltlichen Beziehungen zu den anderen alles relativ ist, scheint uns der ethische Akt manchmal Irrsinn zu sein, weil er eine Art Heiligkeit in die Welt der zweckbetonten Signale hereinbrechen läßt. Mutter Theresa aus Kalkutta sagte (und das haben andere Philanthropen auch gesagt), daß sie in jedem Armen oder Kranken Christi Antlitz sah. Das meint in christlichen Worten, was ein atheistischer Helfer auf andere Art sagen könnte: Ich setze mein Leben aufs Spiel, um einen Unbekannten in Gefahr zu retten, weil es so ist, als riefe Gott selbst mich beim Namen.

Ähnlich ist es, wenn ein Kunstwerk tiefe Gefühle in uns weckt und wir fühlen, daß das, was das Schöne oder Erhabene uns gibt, weit über die utilitaristischen Freuden hinausgeht: Das Werk schüttelt uns durch – „es verändert mein Leben“, sagen manche, weil es uns Aspekte oder Dinge aufdrängt, die wir stets vernachlässigt haben in unserem Sein in der Welt-Umwelt (mondo-ambiente), der Welt, die für uns Sinn hat. Die Unsinnigkeit ästhetisch verstörender Dinge ist gebunden an deren Nicht-Existenz (Kunst operiert immer mit Erscheinungen oder Formen), die sie unserer Aufmerksamkeit entzogen hatte. Das künstlerische Objekt ist stets an den Grenzen unserer Um­welt: Es hat ein Gesicht, das selbstredend Umwelt ist (Schönheit, Verführung, Vergnügung, Anmut), aber auch das andere Gesicht des unheilvollen „Geräuschs“, das die Kohärenz unserer Umwelt herausfordert und manchmal als Schrecken erlebt wird.

In dieser Perspektive erscheint mir die utilitaristische Deutung von Ethik und Ästhetik usw. das philosophische Äquivalent zur Anosognosie zu sein, die wir schon erwähnt haben, als von der Phantomsicht des Anton-Syndroms oder einem Menschen unter hypnotischem Einfluß die Rede war: Es ist ein Weg, um das rationalisieren zu können, was für positive Geister (für die Wirk­lichkeit und Umwelt übereinstimmen) absurd und undenkbar ist. Ethik, Musik und Mystik sind das Undenkbare, welches dem – in die Um­welt des Menschen eingeschlossenen – rationalen Denken „Rechtfertigungen“ abnötigt. Der Patient mit der Phantomsicht sagt, er sei gegen das Möbel gestoßen, weil es nicht an seinem Platz stand, und der Philosoph wird mutatis mutandis sagen, daß ein exorbitanter ethischer Akt – sein Leben für das eines anderen zu opfern – immer noch einen utilitaristischen Sinn hat.

Denn diese ethischen, ästhetischen und mystischen Erfahrungen – das Nicht-Enthemmende, das Geräusch, das Außer-Umweltliche, der Schrecken, den man nicht für möglich hält – zeigt uns nicht die umweltliche Realität, sondern das Reale. Das, was wir eben per definitionem vernachlässigen, was sich uns aber manch­mal als Trauma zeigt. Das ethische, ästhetische und mystische Leben steht nicht in Beziehung zu von Uexkülls „Trägern des Signifikats“, sondern in Beziehung zum unsinnigen Realen.

Aus dem Italienischen von Michaela Wunderle

 

 



[i]          Als Anosognosie bezeichnet man eine hirnorganisch bedingte Körperschemastörung, die eine fehlende Krankheitseinsicht zur Folge hat.

[ii]         Bei Freud: „Verwerfung“

[iii]        „Egozentrisch“ bezieht sich auf das eigene Ich oder auf den eigenen Körperstandpunkt, „allozentrisch“ ist die Fixierung auf einen äußeren Raum.

[iv]         Zenon aus Elea, antiker griechischer Philosoph der Magna Graecia, *490 v. Chr. Er beschrieb die logische Problematik, die entsteht, wenn ein langsames Objekt (die Schildkröte) von einem schnelleren Objekt (Achilles) überholt wird. Bevor Achilles die Schildkröte überholen kann, muß er ihren Vorsprung eingeholt haben. In der dafür benötigten Zeit aber hat die Schildkröte einen neuen, wenngleich kleineren Vorsprung gewonnen, ein Vorgang, der sich unendlich wiederholt.

[v]          Mnestik, Gedächtnis

[vi]         Im Original deutsch

[vii]        Im Original deutsch

[viii]       Im Original deutsch

[ix]        Im Original deutsch. Der Autor benutzt „ambiente“ gleichbedeutend und im Wechsel mit „Umwelt“. (A. d. Ü)

[x]         Im Original deutsch

[xi]        Im Original deutsch

[xii]       Im Original deutsch

[xiii]      Im Original deutsch

[xiv]       Im Original deutsch

[xv]        Im Original deutsch

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